Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2011: Forschung

Erstes Geisteswissenschaftliches Schülerlabor in Tübingen

Schüler an der Universität Tübingen: Schlegel, Architektur und die Romantik des Verfalls

Im Februar kamen knapp 60 ausgewählte Schüler aus der Region für einen Tag nach Tübingen, um am Deutschen Seminar der Universität Tübingen an einem geisteswissenschaftlichen Schülerlabor teilzunehmen. Die Initiative zu diesem Schülerlabor, das in ähnlicher Form zuvor schon in Berlin, Bochum oder Göttingen stattgefunden hatte, kam von der Abteilung Schule und Bildung des Regierungspräsidiums Tübingen unter Federführung von Dr. Stefan Meißner und Dr. Günter Ernst. Kooperationspartner von Seiten der Universität Tübingen waren drei Abteilungen des Deutschen Seminars: die Linguistik mit Professor Dr. Irene Rapp, die Mediävistik mit Professor Dr. Klaus Ridder und die Neuere Literaturwissenschaft mit Professor Dr. Georg Braungart. Durch ein Lesezeitexperiment wurde den Schülerinnen und Schülern beim Schülerlabor gezeigt, wie man die Sprachverarbeitung im Gehirn erforschen kann. Auf dem Wege ‚szenischen Verstehens‘ wurde, angeleitet von dem Theaterpädagogen Werner Jauch, erkundet, wie man neue Modelle mittelalterlicher ‚Konfliktkulturen‘ finden kann. Beim Entziffern von Handschriften aus einer Berliner Vorlesung um 1800 schließlich fanden die ‚Laboranten‘ einen ersten Einstieg in die Editionswissenschaft. - Hier ist der Bericht eines teilnehmenden Schülers:


„Am 15. Februar 2011 kamen am Deutschen Seminar der Universität Tübingen all jene Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschüler zusammen, die gern geisteswissenschafliches Arbeiten kennen lernen wollten – oder auch einfach von Literatur und Sprache begeistert waren. Im Vorfeld konnte man zwischen den Teilfächern Mediävistik, Linguistik und Literaturwissenschaften auswählen, in die uns Schülern dann sechs Stunden lang Einblick gewährt wurde. Ich entschied mich für Literaturwissenschaften. Thema war in meinem Schülerlabor vormittags das Transkribieren und nachmittags das Kommentieren eines schriftlichen Dialogs zweier Adeliger, die damals in den Reihen von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst sitzen durften. Als Mitbegründer der Romantik scheint Schlegel sehr eingestaubt und selbstüberzeugt die teils verklärte, idealisierte Weltsicht dieser Epoche in Reinform antizipiert zu haben. Seine damaligen Zuhörer machten sich in ihrem schriftlichen Dialog indessen kräftig über seine Ausführungen verschiedenartig geformter Säulen und Giebel lustig, von seinen aetherischen Materien beziehungsweise Nemesis und Venus ganz zu schweigen. Alternativ lästerten sie über weitere Anwesende oder unterhielten sich über völlig anderes - wie zum Beispiel zeitgenössische Bücher und Theaterstücke. Das macht deutlich: Auch die Aristokratie des frühen 19. Jahrhunderts hatte wenig Lust auf gähnend langweiliges Theoretisieren aller Formen der Ästhetik – wenngleich sie es sich nicht erlauben konnte, die angesagten Vorträge frühzeitig zu verlassen.


Uns Kommentatoren fiel jedenfalls auf, wie schnell man – vorausgesetzt die damaligen Texte wurden überhaupt richtig entziffert - Wörter in ihrem Zusammenhang falsch deuten und damit den gesamten Text entfremden kann. Ich möchte gar nicht wissen und weiter fragen, wie oft und mit welchen Vorlagen genau das in der Vergangenheit geschehen ist – und was von unserem vermeintlichen historischen Wissen denn eigentlich stimmt und was nicht.


Zu guter Letzt trug jedes der drei Teil-Schülerlabore seine Ergebnisse dem Rest der Gesamtgruppe vor. Die eine Gruppe brachte uns sehr dramaturgisch die Konflikte im Mittelalter nahe, die andere zeigte, wie man (geschriebene) Sprache erst Stück für Stück verstehen kann. Nachdem der kleinen Pressekonferenz am Ende des Schülerlabors, verließ ich das verfallene Gebäude des Neuphilologikums und setzte meinen Weg entlang der philosophischen Fakultätsgebäude zum Bahnhof fort, wobei das Wort Trümmerliteratur eine völlig neue Bedeutung bekam: Man sieht, welche Mittel den so gennanten irrelevanten Laberfächern von der Politik so zugestanden werden.“


Lukas Meisner