Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2012: Forschung

Neuland für die geisteswissenschaftliche Forschung

In der Initiative „Common Language Resources and Technology Infrastructure“ (CLARIN) arbeiten Wissenschaftler in ganz Europa an einer Infrastruktur für die Geistes- und Sozialwissenschaften. Das Deutschland-Projekt CLARIN-D koordiniert Professor Dr. Erhard Hinrichs vom Seminar für Sprachwissenschaft an der Universität Tübingen, er gehört zudem dem Direktorium der gerade gegründeten europaweiten Vernetzungsstelle CLARIN-ERIC an. Im „Uni Tübingen aktuell“-Interview mit Antje Karbe erklärt er, wie CLARIN Wissenschaft verändern wird.

 

Was darf man sich unter einer „Infrastruktur für Sprachressourcen“ vorstellen?


CLARIN ist eines von fünf Projekten aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, die zur europäischen Roadmap gehören, die 2007 erstellt wurde: Das ist eine Art Masterplan, mit dem die Europäische Union (EU) Forschungsinfrastrukturen auf europäischer Ebene stärken will. Bei den naturwissenschaftlichen Disziplinen geht es hier meist um Großgeräte oder Gebäude, in den Geisteswissenschaften um die Vernetzung zentraler Einrichtungen. So will CLARIN relevante Institutionen vernetzen, die Sprachressourcen beheimaten oder Werkzeuge für deren Bearbeitung bereitstellen, zum Beispiel Archive, Bibliotheken oder Forschungseinrichtungen. Dazu gehören bei CLARIN-D unter anderen die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften mit ihrem Textarchiv, das Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim, das Bayerische Archiv für Sprachsignale (BAS) und das Max-Planck-Institut für Psycholinguistik.


Wer wird diese Infrastruktur nutzen?


CLARIN richtet sich an alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die mit Sprachdaten zu tun haben und kann für Spitzenforschung wie auch die Lehre verwendet werden. Wir stellen eine „virtuelle Forschungsumgebung“ zur Verfügung, das heißt Wissenschaftler können künftig von ihrem Arbeitsplatz aus im Netz auf die umfangreichen Datensammlungen zurückgreifen. Dazu entwickeln wir Werkzeuge, automatische computerlinguistische Verfahren, mit denen sich die Ressourcen intelligent durchsuchen und verwerten lassen. Letzteres ist eine Tübinger Spezialität: Wir haben eine Reihe von Diensten entwickelt, wie zum Beispiel den Service „WebLicht“. Mit diesem bringen wir Analysewerkzeuge für Sprache auf eine gemeinsame Plattform und in ein gemeinsames Datenformat. Eine benutzerfreundliche Oberfläche erlaubt es, die Tools im Netz abzurufen und automatisch miteinander zu verknüpfen. Damit haben wir wissenschaftliches Neuland betreten, das wird sehr stark nachgefragt.


Was für Anfragen sind das, beispielsweise?


Wir haben eine Anfrage des kunsthistorischen Museums Florenz, das seine Bibliotheksbestände in verschiedenen Sprachen verschlagworten möchte. Wir können dies für alle Sprachen, die für diese Bestände relevant sind, automatisch durchführen. Ein Gießener Wissenschaftler möchte den Roman „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger auf Wortarten und -häufigkeiten hin untersuchen lassen. Mit unserem Werkzeug werden die Wörter im Computer auf Stammformen reduziert und automatisch eine Konkordanz mit Worthäufigkeiten des Textes erstellt. Eine Doktorandin in Südtirol untersucht Regionalismen in der Deutschen Gegenwartssprache. Wir ermöglichen ihr, verschiedene Textsammlungen in Wien, Bozen, in der Schweiz und in Deutschland gleichzeitig zu durchsuchen und Statistiken zu Worthäufigkeiten zu erstellen. Eine portugiesische Doktorandin hat angefragt; sie untersucht in Barcelona die Rezeption der portugiesischen Revolution durch die Franco-Presse. In CLARIN haben wir feinkörnige Metadaten aufbereitet, die zu jedem einzelnen Zeitungsartikel Datum, Autor und Medium liefern ‒ so ergibt sich eine zeitliche Tiefenschärfe, die ohne diesen Filter nicht möglich wäre. Insgesamt werden solche Angebote verstärkt von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern genutzt, gerade von ihnen bekommen wir oft Anregungen, wo die Bedürfnisse liegen.


Sie koordinieren bei CLARIN Deutschland mindestens neun Partner – aber geplant ist eine europaweite Vernetzung?

Tübingen hat die gesamte Koordination für Deutschland, das heißt, ein Team von acht Personen ist Vollzeit mit CLARIN beschäftigt. Auf europäischer Ebene wurde im April in den Niederlanden das „European Research Infrastructure Consortium (ERIC)“ gegründet, hier werden sich wiederum die CLARIN-Zentren der Mitgliedsländer vernetzen. Zu den acht Gründungsländern kommen im Lauf des Jahres zehn weitere hinzu, so dass alle in Europa beheimateten Sprachfamilien vertreten sein werden. Wir sind überzeugt, dass CLARIN die geisteswissenschaftliche Forschung mittelfristig verändert, weil es Quellen und Werkzeuge, mit denen diese erschlossen wurden, transparenter macht. Es gibt auch Kritik an dieser „Technisierung“ der Geisteswissenschaften. Aber ich denke, in manchen Bereichen ist sie wichtig, um Ergebnisse reproduzierbar zu machen. Es gibt nichts Schlimmeres als Datenfriedhöfe, die nicht mehr zugänglich sind.

Weitere Informationen: www.clarin-d.de