Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2020: Leute

Den Blick für das Ganze schärfen: Thilo Stehle wünscht sich eine engere Zusammenarbeit – innerfakultär und interfakultär

Ein Interview mit dem neuen Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät

Was reizt sie an der Mitgestaltung der akademischen Selbstverwaltung im Allgemeinen und an dem Job als hauptamtlicher Dekan der MNF?

Die MNF ist mit 9.700 Studierenden und 2.000 Beschäftigten eine sehr große Fakultät – die größte an der Universität Tübingen. Ich bin auch Forscher und ich habe mir die Entscheidung für das Amt des Dekans sehr gut überlegt. Es ist eine sehr wichtige und zugleich schwierige Aufgabe, weil hier die Weichen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte gestellt werden. Bereits in fünf Jahren steht bereits die nächste Runde der Exzellenzstrategie an. Aber zugleich ist es auch eine Aufgabe, bei der man viel (mit)gestalten kann.  

Wie können die Universität Tübingen und die MNF ihre Studierenden in der Corona-Zeit unterstützen? 

Wir sind für eine solche Ausnahmesituation noch nicht optimal aufgestellt – bei allen unbestrittenen Fortschritten in den letzten Monaten. Wir alle sprechen – und da beziehe ich auch das Rektorat mit ein – bislang fast ausschließlich darüber, wie wir Vorlesungen und Seminare digital organisieren können. Was aber bislang noch viel zu wenig berücksichtigt worden ist, sind Praktika, praktische Übungen und Laborpraktika. Gerade an der MNF und in meinem Fachbereich Biochemie sind dies zentrale Bestandteile des Studiums, sowohl im Bachelor- wie auch im Masterstudiengang. Die Durchführung von Praktika und Großpraktika ist aktuell ein ganz schwieriges Problem, das geht nur im Schichtbetrieb und mit Abstandsregeln. Wir müssen prüfen, inwieweit Video-Tutorials eine Alternative zu praktischen Übungen sein können. Für diese Problematik vermisse ich bislang noch die Wahrnehmung sowohl im Rektorat wie auch im Ministerium.

Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass Vieles, was jetzt an neuen digitalen Formaten entstanden ist, über die derzeitige Pandemie hinaus einen Nutzen haben wird. Ich denke an die vielen aufgezeichneten Vorlesungen auf dem timms-Server. Man kann sie nachhaltig nutzen, etwa für Studierende, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen können – weil sie vielleicht kleine Kinder haben oder krank sind.

Sie setzen sich ein für bessere Perspektiven für Nachwuchswissenschaftler an der Universität. Wo sind hier die größten Mankos und welche Ideen haben Sie, um die Situation zu verbessern?

Ich selbst bin vor gut 25 Jahren in die USA gegangen, weil ich damals Gefühl hatte, dass ich in Deutschland als Nachwuchswissenschaftler nicht unabhängig arbeiten kann. Seitdem hat sich die Situation in Deutschland verbessert, aber der Übergang von einer Nachwuchsgruppe(nleitung) zu einer Professur ist immer noch schwierig – trotz der Einführung von Juniorprofessuren und tenure tracks.

Und das gilt umso mehr für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus dem Ausland. Für sie ist das ganze deutsche Berufungssystem nach wie vor sehr intransparent – das schreckt immer noch viele ab. Und es kommt auch heute noch vor, dass wir internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Potenzial an andere Universitäten verlieren, weil diese besser erklären, wie die Prozesse dort ablaufen und wie das System funktioniert. Meine Amtszeit möchte ich dazu nutzen, dies zu verbessern.

Für eine gute Lehre und Forschung ist aber auch ein solider Mittelbau die Basis. Im Mittelbau arbeiten sehr gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die vielleicht gar nicht Professorin oder Professor werden möchten. Sie sind aber immens wichtig, weil sie einen guten Draht zu den von ihnen betreuten Studierenden haben oder hervorragend beim Voranbringen von Forschungsprojekten sind. Daher benötigen wir auch für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler, die im Mittelbau arbeiten möchten, berufliche Perspektiven.

Bei der Betreuung der Doktorandinnen und Doktoranden hat sich in den letzten Jahren einiges getan: Graduiertenakademie, Doktorandenkonvente, Promotionsvereinbarung. Was kann darüber hinaus noch verbessert werden?

Ein Grundproblem aus meiner Sicht ist, dass die Doktorväter und Doktormütter in Deutschland sehr viel Einfluss haben. Das führt immer wieder bei der Betreuung von Doktorandinnen und Doktoranden zu Problemen, die spät oder zu spät erkannt werden. Der erfolgreiche Abschluss der Promotion hängt zu sehr von der Person des Betreuers bzw. der Betreuerin ab. Daran haben auch die mittlerweile verbindlich eingeführten Promotionsvereinbarungen nichts grundlegend geändert.

In den USA treffen sich die so genannten Betreuungskomitees (thesis adivsory committees) einmal jährlich mit den Doktorandinnen und Doktoranden und sprechen mit ihnen über ihre Arbeit. Der Doktorvater bzw. die Doktormutter ist dabei nur Gast und darf auch bei den Prüfungen keine Fragen stellen. Dadurch hängt im amerikanischen Promotionsverfahren nicht alles an einer Person, es gibt ein regelmäßiges Feedback für die Promovenden und Probleme während der Promotion werden frühzeitiger erkannt. Nach dem Prinzip Checks and Balances funktioniert dieses System meiner Meinung nach besser.

Die MNF ist an allen drei Exzellenzclustern der Uni maßgeblich beteiligt und auch in der Einwerbung von Drittmitteln sehr erfolgreich. Was möchten Sie als Dekan tun, damit die MNF weiterhin so erfolgreich im Bereich Forschung bleibt? Und sehen Sie in bestimmten Bereichen Potentiale, die noch ausbaufähig sind bzw. noch zu wenig sichtbar sind?

Die erste Aufgabe wird es sein, die drei aktuell geförderten Cluster auf ein sicheres Fundament im Hinblick auf die nächste Förderrunde zu stellen. Daneben braucht wir für die nächste Runde natürlich auch neue Anträge, denn wir können nicht voraussetzen, dass alle drei Cluster automatisch weiter gefördert werden. 

Ich sehe großes Potential bei den Mathematikern und Physikern in Tübingen, auch wenn es in diesen Bereichen aktuell mehr Einzelprojekte und kleinere als größere Verbundprojekte gibt. Die Pflanzenbiologie ist in Tübingen sehr stark aufgestellt - wie auch die Geowissenschaften, mit den Themen Umweltproblematik, nachhaltige Forschung und Bewirtschaftung und Mikrobiologie. Und die Neurowissenschaften, die in der letzten Runde nicht erfolgreich waren, sind weiterhin ein aussichtsreicher Kandidat für künftige Anträge.

Die MNF kann und will diese strategischen Planungen der Universität Tübingen aktiv mitgestalten. Grundsätzlich glaube ich, dass die MNF schon sehr gut aufgestellt ist. Vielleicht haben wir sogar die Chance haben, uns beim nächsten Mal von drei auf vier Cluster zu steigern.

Was können Deutschland und die Universität Tübingen von den USA und anderen Ländern in Punkto internationale Vernetzung und Kooperation lernen?

Zunächst würde ich persönlich eine Bottom-up-Strategie für internationale Kooperationen bevorzugen. Konkret: dort, wo es bereits gute Kooperationen gibt, versucht man diese zu intensivieren und dann eventuell auch eine strategische Partnerschaft auf Universitäts-Ebene zu vereinbaren. Das machen aus meiner Sicht viele ausländische Universitäten – nicht alle – besser.

Die Universität Tübingen unterhält zwar bereits Beziehungen zu vielen renommierten Universitäten im Ausland, verfährt aber bislang eher nach einer Top-down-Strategie: es wird eine Kooperation mit einer ausgewählten Universität abgeschlossen – und erst dann schaut man, in welchen Fachbereichen eine Zusammenarbeit oder gemeinsame Projekte vorstellbar und sinnvoll sind. 

Der zweite Punkt ist die Kultur des Fundraisings. Hier ist das Ausland und insbesondere die USA uns um Einiges voraus. Natürlich gibt es auch bei uns erfolgreiche Beispiele von Industrie-Kooperationen, wie zum Beispiel das CyberValley. Aber bei uns ist die Angst vor Einflüssen von außen immer noch sehr groß – vielleicht ein sehr deutsches Phänomen. Natürlich wollen wir – um ein Beispiel zu nennen – keine Auftrags-Forschung für Amazon betreiben, dennoch sollte man grundsätzlich offener sein für Kooperationen mit Partnern von außen. Andere Hochschulen, insbesondere im Ausland, sind da schon etwas weiter.

Welche Aspekte liegen Ihnen darüber hinaus für Ihre Amtszeit als Dekan besonders am Herzen?

Ich wünsche mir, dass die Fakultät als Ganzes noch mehr zusammenarbeitet. Dass sie den Blick für das Ganze schärft und nicht nur für den eigenen Fachbereich. Aber auch die Zusammenarbeit über Fakultätsgrenzen hinweg, zum Beispiel mit der Medizinischen oder der Philosophischen Fakultät, ist mir wichtig. Mein Ziel ist es, dass die Fakultäten mehr miteinander ins Gespräch kommen, über gemeinsame Ziele und Projekte – auch im Hinblick auf unsere Planungen für die Exzellenzstrategie. 

Ein gutes Beispiel für das fakultätsübergreifende Vernetzen ist für mich die Ethik in der Wissenschaft. Hier brauchen wir als Naturwissenschaftler auch den Input von Leuten, die nicht in der Naturwissenschaft tätig sind, die größere Perspektive.

Das Interview führte Maximilian von Platen