Welche Rolle spielt Geschichte in der russischen Propaganda? Sehen Sie eine Veränderung bei den Legitimierungsversuchen der russischen Seite für diesen Angriffskrieg?
Geschichte gehört zu den wenigen nichtmineralischen Ressourcen, über die Russland im Überfluss verfügt. Beim Dreischritt von innerer Repression, militärisch-patriotischer Dressur und äußerer Aggression wird Geschichte schon seit Jahren als politische Waffe eingesetzt, um die eigene Bevölkerung auf Putins Kriegskurs einzuschwören. Bei ihren geschichtspolitischen Offensiven erklärt die russische Propaganda ukrainische Regionen zu „urrussischem Land“, um der Ukraine neben Territorium auch ihre Kultur, Geschichte und letztlich die nationale Identität zu rauben.
Die Großinvasion in die Ukraine vermittelt der Kreml als Re-Inszenierung des „Großen Vaterländischen Kriegs“. Es sollte der Eindruck entstehen, die Armee Russlands marschiere als Befreierin vom Faschismus in die Ukraine ein. Tatsächlich gibt es heute in Kyiv eine demokratisch gewählte Regierung, und der ukrainische Präsident stammt aus einer jüdischen und russischsprachigen Familie. Die antisemitischen Ausfälle des russischen Außenministers Sergej Lawrow gegenüber Wolodymyr Selenskyj – „Hitler hatte auch jüdisches Blut; die eifrigsten Antisemiten sind in der Regel Juden“ – unterstreichen die Absurdität dieses russischen Narrativs.
Die Kremlpropaganda hat die Ukraine jahrzehntelang als korrupten Staat mit einer tiefgespaltenen Gesellschaft dargestellt. Umso schwerer fällt jetzt die Erklärung, warum die in Moskau vorbereitete sogenannte „militärische Spezialoperation“ nicht den erwarteten schnellen Sieg gebracht hat. Daher mussten die Legitimationsstrategien verändert werden: Heute fühlt sich Russland im Krieg mit dem gesamten „kollektiven Westen“, weil dieser mit all seiner Militärmacht die Ukraine in die Lage versetzen wolle, Russland zu zerstören. Und aufgrund dieser westlichen Waffenhilfe drohe nun die Eskalation des Kriegsgeschehens. Dieses Narrativ dient letztendlich ausschließlich der Schuldlastumkehr, verfängt aber – leider – auch in einigen von Russophilie und Antiamerikanismus geprägten Milieus, in Deutschland und in Europa.
Wie groß ist die Leidensbereitschaft der russischen Bevölkerung? Steht das Volk noch bedingungslos hinter Putin oder bröckelt die Unterstützung für den Krieg seit der Mobilmachung am 21. September 2022?
Es gibt substanzielle gesellschaftliche Unterstützung für Putins Kriegskurs, auch ein Jahr nach Kriegsbeginn. Die Reichweite des inszenierten „Hurrapatriotismus“ darf allerdings auch nicht überschätzt werden. Zuletzt mehrten sich in einigen Gesellschaftsgruppen angesichts der hohen Kriegsverluste die Zweifel, ob sich die russische Armee nicht besser aus der Ukraine zurückziehen sollte. Die Menschen wollen kriegerische Triumphe – aber keine persönlichen Tragödien. Weil öffentliche Proteste mit massiver polizeistaatlicher Repression verfolgt werden, können sich Trauer und Unmut aber politisch nicht organisieren. Das führt zu einer abwartenden Haltung, die von den einen als „Apathie“, von anderen als „passiver Widerstand“ verstanden wird.
Von außen betrachtet irritiert besonders, dass viele in Russland auf ihr eigenes Leid fixiert sind und darüber hinaus nur sehr wenig Mitgefühl für die unter dem Krieg leidenden Menschen in der Ukraine zeigen – und das, obwohl ganz viele Russen verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen in der Ukraine haben, oder zumindest bis Kriegsbeginn hatten.
Nüchtern betrachtet, ist ein politischer Wandel in Russland kaum durch einen öffentlichen Stimmungsumschwung zu erwarten. Die russischen Eliten, die ihren Aufstieg überwiegend Putins verdanken, entscheiden darüber, was im Kreml passiert.
Sorge bereitet vielen Russen jedoch, dass die heimische Wirtschaft durch die Sanktionen zwar nicht kollabiert, aber durch den Krieg ihre Zukunftschancen verspielt. Denn Putins auf fossilen Rohstoffen basierende Diktatur verpasst es mit ihrem oligarchischen Staatskapitalismus, sich auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einzustellen.