Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2023: Forschung

Über einen Waffenstillstand oder Verhandlungen wird auf dem Schlachtfeld entschieden

Putins Ziel: die Ukraine als eigenständiges Staatswesen und europäische Nation von der Landkarte tilgen

 Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen. Zum Jahrestag des russischen Angriffs erläutert der Tübinger Osteuropa-Historiker und Russland-Experte Professor Klaus Gestwa die aktuelle Lage in der Kriegsregion. Im Video widerlegt er außerdem acht populäre Thesen zu Russlands Angriffskrieg.Im Video widerlegt Gestwa außerdem acht populäre Thesen zu Russlands Angriffskrieg.


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365 Tage Krieg in der Ukraine: Wie ist Ihre Einschätzung des Kriegsverlaufs?

Als vor einem Jahr die russische Großinvasion begann, brachte sich die ukrainische Gesellschaft mit viel Einsatz in den Überlebenskampf ihres Landes ein. Der ukrainischen Armee ist es in der Folge gelungen, diese große gesellschaftliche Wehrhaftigkeit für eine erfolgreiche Kriegsführung zu nutzen. Seit Russland mit der Krim-Annexion 2014 und der militärischen Intervention im Donbas den Weg der Konfrontation und des Krieges wählte, hat sich die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine, nicht zuletzt auch durch westliche Unterstützung, massiv verbessert: Die ukrainischen Streitkräfte sind heute hochmotiviert, gut geschult und strategisch geschickt.

Damit hatte Putin nicht gerechnet – genauso wenig wie mit dem desolaten Zustand seiner eigenen Streitkräfte. Die Kremlpropaganda hat sich jahrelang im Jubel über neue Waffensysteme ergangen und dabei außer Acht gelassen, dass die weitverbreitete Korruption und Inkompetenz zu großen logistischen, organisatorischen und operationellen Defiziten geführt haben. Ihre fehlende militärische Professionalität versucht die russische Armee mit Brutalität zu kompensieren. Kriegsverbrechen sind damit systematischer Teil ihrer Kriegsführung geworden. Das sollte die Ukrainerinnen und Ukrainer demoralisieren, hat aber genau das Gegenteil bewirkt: Es gibt in der Ukraine kaum jemanden mehr, der Teil der russischen Welt werden möchte.

Welche Rolle spielt Geschichte in der russischen Propaganda? Sehen Sie eine Veränderung bei den Legitimierungsversuchen der russischen Seite für diesen Angriffskrieg? 

Geschichte gehört zu den wenigen nichtmineralischen Ressourcen, über die Russland im Überfluss verfügt. Beim Dreischritt von innerer Repression, militärisch-patriotischer Dressur und äußerer Aggression wird Geschichte schon seit Jahren als politische Waffe eingesetzt, um die eigene Bevölkerung auf Putins Kriegskurs einzuschwören. Bei ihren geschichtspolitischen Offensiven erklärt die russische Propaganda ukrainische Regionen zu „urrussischem Land“, um der Ukraine neben Territorium auch ihre Kultur, Geschichte und letztlich die nationale Identität zu rauben.

Die Großinvasion in die Ukraine vermittelt der Kreml als Re-Inszenierung des „Großen Vaterländischen Kriegs“. Es sollte der Eindruck entstehen, die Armee Russlands marschiere als Befreierin vom Faschismus in die Ukraine ein. Tatsächlich gibt es heute in Kyiv eine demokratisch gewählte Regierung, und der ukrainische Präsident stammt aus einer jüdischen und russischsprachigen Familie. Die antisemitischen Ausfälle des russischen Außenministers Sergej Lawrow gegenüber Wolodymyr Selenskyj – „Hitler hatte auch jüdisches Blut; die eifrigsten Antisemiten sind in der Regel Juden“ – unterstreichen die Absurdität dieses russischen Narrativs.

Die Kremlpropaganda hat die Ukraine jahrzehntelang als korrupten Staat mit einer tiefgespaltenen Gesellschaft dargestellt. Umso schwerer fällt jetzt die Erklärung, warum die in Moskau vorbereitete sogenannte „militärische Spezialoperation“ nicht den erwarteten schnellen Sieg gebracht hat. Daher mussten die Legitimationsstrategien verändert werden: Heute fühlt sich Russland im Krieg mit dem gesamten „kollektiven Westen“, weil dieser mit all seiner Militärmacht die Ukraine in die Lage versetzen wolle, Russland zu zerstören. Und aufgrund dieser westlichen Waffenhilfe drohe nun die Eskalation des Kriegsgeschehens. Dieses Narrativ dient letztendlich ausschließlich der Schuldlastumkehr, verfängt aber – leider – auch in einigen von Russophilie und Antiamerikanismus geprägten Milieus, in Deutschland und in Europa. 

Wie groß ist die Leidensbereitschaft der russischen Bevölkerung? Steht das Volk noch bedingungslos hinter Putin oder bröckelt die Unterstützung für den Krieg seit der Mobilmachung am 21. September 2022?

Es gibt substanzielle gesellschaftliche Unterstützung für Putins Kriegskurs, auch ein Jahr nach Kriegsbeginn. Die Reichweite des inszenierten „Hurrapatriotismus“ darf allerdings auch nicht überschätzt werden. Zuletzt mehrten sich in einigen Gesellschaftsgruppen angesichts der hohen Kriegsverluste die Zweifel, ob sich die russische Armee nicht besser aus der Ukraine zurückziehen sollte. Die Menschen wollen kriegerische Triumphe – aber keine persönlichen Tragödien. Weil öffentliche Proteste mit massiver polizeistaatlicher Repression verfolgt werden, können sich Trauer und Unmut aber politisch nicht organisieren. Das führt zu einer abwartenden Haltung, die von den einen als „Apathie“, von anderen als „passiver Widerstand“ verstanden wird. 

Von außen betrachtet irritiert besonders, dass viele in Russland auf ihr eigenes Leid fixiert sind und darüber hinaus nur sehr wenig Mitgefühl für die unter dem Krieg leidenden Menschen in der Ukraine zeigen – und das, obwohl ganz viele Russen verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen in der Ukraine haben, oder zumindest bis Kriegsbeginn hatten.

Nüchtern betrachtet, ist ein politischer Wandel in Russland kaum durch einen öffentlichen Stimmungsumschwung zu erwarten. Die russischen Eliten, die ihren Aufstieg überwiegend Putins verdanken, entscheiden darüber, was im Kreml passiert. 

Sorge bereitet vielen Russen jedoch, dass die heimische Wirtschaft durch die Sanktionen zwar nicht kollabiert, aber durch den Krieg ihre Zukunftschancen verspielt. Denn Putins auf fossilen Rohstoffen basierende Diktatur verpasst es mit ihrem oligarchischen Staatskapitalismus, sich auf die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts einzustellen.

Ausblick: Gibt es aktuell realistische Chancen für einen Waffenstillstand oder ein Ende des Krieges?

Russland bereitet schon seit Monaten einen neuen Großangriff auf die Ostukraine vor. Gleichzeitig hat Moskau den Druck auf Minsk massiv erhöht, um den Einmarsch der belarussischen Armee an der Seite der russischen Truppen in den Norden der Ukraine zu erreichen. 

Wer den politischen Diskurs in Russland verfolgt, kann keinerlei Anzeichen von Mäßigung und Verhandlungsbereitschaft erkennen, ganz im Gegenteil: Der Kreml will bislang nur Verhandlungen über eine Kapitulation und Unterwerfung der Ukraine führen. Das aber ist für die Ukraine schlichtweg unannehmbar, weil das gleichbedeutend mit ihrem Untergang als Staat und Nation wäre. Vor dem Hintergrund der schrecklichen russischen Kriegsverbrechen fordert Kyiv vielmehr die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine und so die Rückkehr zum Völkerrecht. Ein auch in Deutschland immer wieder empfohlener „Friede gegen Territorium“, um damit Putin einen gesichtswahrenden Ausweg aufzuzeigen, ist für die Ukraine gegenwärtig keine Option. Ein solcher Frieden würde aus meiner Sicht zudem einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, dass sich auch im 21. Jahrhundert Angriffskriege weiter lohnen: Ein erneuter Landraub Putins – nach der Krim 2014 – in der Ukraine würde seinen großrussischen Imperialismus nicht stoppen, sondern lediglich stärken und auch andere Staatschefs weltweit auf Expansionsgedanken bringen.

Angesichts des offenkundigen Primats des Militärischen – sowohl in Moskau wie auch in Kyiv – wird über einen Waffenstillstand oder Verhandlungen zunächst auf dem Schlachtfeld entschieden. In der nun wieder von schweren Gefechten geprägten Lage entspringt die in offenen Briefen an die deutsche Politik herangetragene Forderung nach einer diplomatischen Offensive zwar dem verständlichen Wunsch, dem schrecklichen Blutvergießen ein Ende zu bereiten, aber meiner Meinung nach auch der Unkenntnis der politischen Lage in Osteuropa.

Wir werden 2023 weiterhin unsicheren Zeiten entgegensehen. Es wird bei der Gratwanderung bleiben, einerseits die Ukraine auch militärisch zu ertüchtigen, andererseits zu verhindern, dass die NATO selbst Kriegspartei wird. Ein dauerhafter Frieden scheint erst möglich zu sein, wenn der Kreml das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht der Ukraine grundsätzlich anerkennt und die Ukraine verlässliche internationale Sicherheitsgarantien erhält, so dass Russland keinen weiteren Angriffskrieg mehr starten kann. 

Dem dürfte Putin allerdings kaum zustimmen: Er will über kurz oder lang die Ukraine als eigenständiges Staatswesen und als europäische Nation von der Landkarte tilgen. Putin kann nicht als Modernisierer Geschichte schreiben, deshalb will er es als Eroberer. Für ihn bedeutet Krieg nicht das Versagen von Politik, sondern ein Mittel, um seine Macht im Kreml zu sichern. Wer das nicht erkennt, macht sich etwas vor. Niemand weiß das besser als die Menschen in der Ukraine.

Das Interview führte Maximilian von Platen