Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2023: Studium und Lehre

Ein kreativer Raum für Studierende, in dem sie Mitspracherecht haben und mitgestalten können

Die Lyrikerin Nancy Hünger leitet seit dem Wintersemester 2022/23 das Studio Literatur und Theater an der Universität Tübingen

Frau Hünger, was ist Ihr Lieblingsbuch, was Ihr Lieblingstheaterstück?

Eine schwierige Frage – ich habe so viele Lieblingsbücher. Meine ‚literarische Initiation’ hat auf jeden Fall mit Samuel Beckett begonnen, sein gesamtes Oeuvre ist mir sehr nah. Und daraus haben sich, glaube ich, viele Lieben entwickelt. Was Theaterstücke angeht – da sind wir natürlich wieder bei Beckett, Tom Stoppard oder aber Elfriede Jelinek.

Die Schriftstellerinnen, die im Vergleich zu ihren Kollegen deutlich zu wenig Beachtung finden, liegen mir ganz besonders am Herzen: Ilse Aichinger, Friedericke Mayröcker, Zsuzsanna Gahse oder Helga M. Novak usw. Zu diesem Thema gebe ich im Sommersemester gemeinsam mit meinen Kolleginnen Heike Gfrereis und Carolin Callies auch das Seminar ‚Frauenliteratur im Archiv‘.

Frauen sind in der Literatur nahezu in allen Bereichen unterrepräsentiert. Zur Rechtfertigung werden immer wieder Vorurteile bemüht: Frauen hätten weniger geschrieben, Frauen kreisten nur um Frauen, Frauen seien die schlechteren Autorinnen... Dabei gibt es eine Vielzahl großartiger Autorinnen, nur sind sie allesamt kaum durch Werkausgaben und Archive überliefert. Denn Männer haben Geschichte geschrieben und wiederum Männern die maßgeblichen Rollen zugewiesen.

Wir versuchen, in diesem Seminar die Perspektiven zu wechseln und recherchieren nach Objekten in den Nachlässen von Schriftstellerinnen, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach gesammelt werden, um ein imaginäres Museum daraus zu bauen. Welche Exponate kommen in dieses Museum, wie schreiben wir mit ihnen Literaturgeschichte und welche (literarischen oder wissenschaftlichen) Kommentare begleiten sie?

Was haben Sie studiert?

Meine Alma Mater ist die Bauhaus-Universität Weimar. Ich habe zunächst angefangen, Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte an der FSU Jena zu studieren. Aber irgendetwas hat mir in diesem Studium gefehlt, besonders unter der Germanistik habe ich gelitten. Deswegen habe ich Kunst studiert und bin diplomierte freie Künstlerin.

Der Studiengang ‚Freie Kunst’ an der Uni Weimar wurde zu DDR-Zeiten in den 1970er-Jahren verboten und erst in den 1990er-Jahren, kurz nach der Wiedervereinigung, wieder neueröffnet. Damals hat der Studiengang sich an der zeitgenössischen Kunst orientiert: viel Performance, Bodyart, Video, Installationen – also die eher neueren Medien waren das Feld, in dem man sich im Rahmen des Studiengangs bewegen konnte.

Und doch sind Sie bei der Literatur gelandet...

Ich bin durch mein Studium vielseitig aufgestellt. Von Haus aus bin ich aber Schriftstellerin. Ich komme aus der Lyrik, einem prekären Bereich der Literatur sozusagen. Ich denke, ich habe einfach die Sprache gewechselt: Von der Bildenden Kunst zur Literatur. In gewisser Weise ist Adorno „schuld“: Durch eine frühe und übereifrige Lektüre der Ästhetischen Theorie ist mir das eigene bildkünstlerische Arbeiten unmöglich geworden. So habe ich schon zu Studien-Zeiten ins theoretische Fach und damit zum Medium Schrift gewechselt.

Meine jetzige Aufgabe am Studio Literatur und Theater, nämlich Werkstätten oder Seminare zum kreativen Schreiben zu geben, hat auch meine ganze Berufswelt bestimmt. Ich habe bereits für verschiedenste Organisationen und Häuser solche Werkstätten und Seminare geleitet. 

Tübingen ist Ihnen bereits gut bekannt...

Ich war 2018 bereits für drei Monate als Stadtschreiberin Tübingen. Und das war ich wirklich sehr gerne. Ich habe mich hier sehr wohlgefühlt in dem Vierteljahr und viele Bekanntschaften und Freundschaften gewonnen. Deswegen habe ich mich mit Begeisterung auf die Stelle beim Studio Literatur und Theater beworben. Es eine bemerkenswerte Einrichtung – das einzige Literaturinstitut im deutschsprachigen Raum, für das es keinerlei Eignungstest gibt. Hier kann sich jede und jeder aus jeglicher Fakultät und mit jedwedem Hintergrund frei und kreativ betätigen. Ich finde, jede Hochschule sollte eine solche Einrichtung haben!

Ist das Studio Literatur und Theater ausschließlich ein Angebot für Studierende?

Nein, wir sind für alle offen, auch für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Universität. Und es gibt auch einige Gasthörerinnen und -hörer, die unser Angebot sehr gerne annehmen. 

Was ist Ihre persönliche Vorstellung vom Studio Literatur und Theater?

Die zentrale Aufgabe des SLT ist für mich, die Leute zum Schreiben und auch zum Denken zu ermutigen. Ich bemühe mich, allen die Ehrfurcht vor den Texten und auch vor dem literarischen Kanon zu nehmen. Wir müssen immer wieder hinterfragen: Was sind das für Positionen, was für Werturteile sprechen wir aus? – Ich versuche eine Art permanenten und kritischen Dialog zu schaffen, das finde ich generell ganz wichtig im Umgang mit Wissen, mit Wissensbegriffen und Wissensgegenständen. Wir sollten uns immer gewärtig machen, dass all das historisch gewachsen ist und somit eine Geschichte hat.

Ich wünsche mir, dass das Studio ein offener und freier Raum ist. Ein kreativer Raum für Studentinnen und Studenten, in dem sie Mitspracherecht haben und in den sie mitgestalten können. Gemeinsam mit Studierenden des SLT haben wir deshalb ein Selbstverständnis entworfen, dass diesen Raum und auch meine künftige Arbeit konturieren soll.

Wie kann dieses Mitspracherecht, diese Mitgestaltungsmöglichkeit aussehen?

Es gibt zum Beispiel eine Art ‚Kurs auf Wunsch’: Wenn in den verschiedenen Seminaren bestimmte Diskussionspunkte oder Themen plötzlich sehr viel Gewicht bekommen, spüre ich nach, ob diese Themen gerade virulent sind. Natürlich frage ich auch sehr viel nach und höre zu, ich bin im Dauerkontakt mit den Studierenden bzw. mit unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Ich versuche ihre Wünsche zu berücksichtigen und in die Semesterplanung mit aufzunehmen.

Der Wunsch-Kurs im Sommersemester befasst sich mit politischer Lyrik. Bei den Studierenden gibt es ein großes Bedürfnis, sich mit den aktuellen Krisen auseinanderzusetzen. Wie geht man damit um und wie kann man das lyrisch verarbeiten, ohne dass es Propaganda wird? Warum muss es überhaupt in der Lyrik stattfinden? Bei der Textauswahl beginnen wir 1945 bei der sogenannten Stunde Null. 

Wie läuft ein Kurs bei Ihnen in der Regel ab?

Wir starten mit einer intensiven Lektüre. Das ist für mich die Grundvoraussetzung für das Schreiben. Ohne dass man sich am Lesen schult, ist es meiner Überzeugung nach sehr schwierig mit dem Schreiben, auch mit dem literarischen Schreiben. Das Lesen dient einerseits einer Art kritischem Textbewusstsein, andererseits natürlich auch der Inspiration. Danach beginnt meistens der Schreibprozess. Dies ist ein privater Prozess, der in der Regel zu Hause stattfindet. Anschließend werden die Texte im Seminar präsentiert und gemeinsam diskutiert – dabei wird über jedes Komma gestritten...

Das Studio Literatur und Theater bietet auch einen Rahmen, um sich in Kritik zu schulen. Wie formuliere ich Kritik, wie gehe ich mit Kritik um. Ich versuche die Hierarchien so flach wie möglich zu halten, damit sich tatsächlich alle ermutigt fühlen und wissen, dass ihre Meinung wichtig ist: auch wenn es erst mal ein gefühltes Urteil ist, steckt darin oft ein relevantes Urteil, dem es nachzuspüren gilt. Etwa wenn ein Text wütend macht oder frustriert.

Welche weiteren Kurse bieten Sie im Sommersemester 2023 an?

Ein Kurs orientiert sich am Open Mike, dem wichtigsten Nachwuchspreis für Prosa und Lyrik. Er findet in Berlin im Haus der Poesie statt. Wir lesen die Texte der Preisträgerinnen und -träger, also quasi ihrer eigenen ‚Kohorte’: Was treibt diese Generation um, wie verarbeitet sie das literarisch? Wir diskutieren das und die Studierenden sind dann angehalten, entweder diese Themen oder stilistische Elemente aufzugreifen – oder auch gegen diese Texte anzuschreiben.

Der Kurs ‚Freie Formen’ widmet sich Literatur, die nicht genuin in ein Prosa- oder ein Lyrikformat passt. ‚Störe’ nennt Zsuzsanna Gahse, die auch mal im SLT unterrichtet hat, solche Texte, die sich nicht in feste Rubriken pressen lassen. Wir lesen ganz viele Autorinnen und Autoren, die in diesem Zwischenbereich gearbeitet haben. Und das macht etwas mit den Studierenden, es entstanden bereits im letzten Semester erstaunliche Texte. Ich denke, diese freie Form macht auch das eigene Schreiben unbefangen und mutig.

Der Kurs ‚Long Distance Runners’ ist für alle gedacht, die Projekte in der Schublade haben, die beispielweise schon länger an einem Roman arbeiten. Das hat den Charakter eines Kolloquiums und bietet den Austausch für Fortgeschrittene.

Haben Sie Vorgaben für die Leitung des SLT? Und wird in den Kursen ausschließlich deutsche Literatur behandelt?

Beim Literaturkanon, der Konzeption und der Werkstatt habe ich weitgehende Freiheiten. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Studierenden, die auf Englisch schreiben, auch wenn sie keine native speaker sind. Aber das macht natürlich die Bewertung der Texte schwieriger, weil es ganz andere Traditionsgeflechte gibt. Die angelsächsische Literatur hat sich ganz anders entwickelt, in der Lyrik gibt es da zum Beispiel viel mehr narrative Freiheiten als in der deutschen.

Haben Sie Kooperationspartner für Ihre Angebote?

Wir haben immer wieder Autorinnen und Autoren als Gastdozenten. Und wir arbeiten eng mit dem ITZ (Zimmertheater) und dem Landestheater Tübingen (LTT) zusammen.

Besonders freue ich mich momentan auf den Kurs ‚Nichts tun!’, den ich zusammen mit Dr. Simon Frisch von der Bauhaus-Universität Weimar anbiete; er ist Medienwissenschaftler und Experte für ostasiatische Philosophie. Gemeinsam mit Studierenden werden wir im September eine Woche lang laufen und nichts tun – und darüber reflektieren. Wir wollen die Beobachtung schärfen, schauen, wie man das Beobachtete in Sprache übersetzt. Was sieht man, was nimmt man wahr, was hört man, was riecht man? Und auch das Handy mal abstellen. 

Sie haben ja bereits die Kooperationen mit dem ITZ und dem LTT angesprochen. Welche Rolle spielt Theater, das Szenische im Studio und Literatur und Theater?

Bei den ‚Theaterkursen’ am SLT geht es grundsätzlich ums dramatische Schreiben, hier liegt auch eindeutig das Bedürfnis der Studierenden. Aber durch die Kooperation mit den Theatern können die Studiereden am Ende der Werkstatt ein Stück sehen, sie haben ein szenisches Erlebnis. 

Das Bedürfnis, sich selbst auszudrücken, die eigene Umwelt und das eigene Erleben auszudrücken, ist unstillbar.

In den Medien wird aktuell sehr viel über künstliche Intelligenz diskutiert. Ist das auch in Ihrem Bereich ein Thema?

In der Literatur ist das schon sehr lange ein Thema. Gerade hier im Großtraum Stuttgart befinden wir uns ja quasi im Epizentrum dieser Tradition. Reinhard Döhl, Helmut Heißenbüttel und Max Bense haben hier schon früh in den 1970er-Jahren Experimente dazu gemacht und geschaut, was maschinell oder stochastisch erstellte Texte können. Und es gab schon vor längerem erste Romane, die durch Algorithmen entstanden sind, sie haben aber wenig Aufsehen erregt.

Ich möchte die Gefahren und die Ängste nicht ausklammern, keinesfalls. Aber ich finde, es ist ein spannender Diskurs, der auch Fragen aufwirft, die an Hochschulen wirklich überfällig sind: Was heißt denken? Was heißt kritisch reflektieren? Was ist der Eigene an einer Hausarbeit? Wie viele Reflexionsebenen stecken dahinter? Was kann eine Maschine? Und was ist eigentlich das, was das eigene Denken leisten kann, was die Maschine nicht kann?

Ich bin schon im Austausch mit meinen Kollegen Gregor Schulte und Patrick Klügel vom KI Makerspace, wir überlegen, ob wir gemeinsam einen Kurs anbieten.

Noch eine persönliche Bemerkung: Es gibt gerade viele Debatten, ob sich nicht besonders die sogenannte Kreativbranche von ChatGPT bedroht fühlen sollte? Verlieren jetzt alle Journalistinnen und Journalisten, alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihren „Job“? Interessanterweise ist es jedoch so, dass das Bedürfnis, sich selbst auszudrücken, die eigene Umwelt und das eigene Erleben auszudrücken, unstillbar ist. Insofern mache ich mir aktuell keine Sorgen, was unsere Kurse betrifft.

Im Selbstverständnis des SLT heißt es unter anderem: ‚...das Scheitern und die Zweifel am eigenen Schaffen sind notwendige Voraussetzungen, wenn nicht Bedingungen des eigenen Schreibens...’.

Immer besser Scheitern – das geht natürlich auch zurück auf Samuel Beckett. Und es ist auch mein Motto, mein Credo. Wir leiden ja in der Literatur immer noch unter dem Genie-Begriff und der Genie-Ästhetik, die sich gerade in Deutschland so hartnäckig halten wie wahrscheinlich nirgends sonst: Alles muss sofort fertig sein, alles muss sofort brillant sein. Und es gibt eine große Angst vor dem weißen Blatt, dem berühmten ‚Horror Vacui’.

Ich glaube, sich bewusst zu sein, dass Scheitern Teil des Ganzen ist, ist schon mal ein erster wichtiger Schritt. Wir haben gerade in Deutschland eine seltsame Einstellung zum Scheitern, ganz im Gegenteil zum angelsächsischen Raum, wo das Scheitern beinahe schon gefeiert wird. In Deutschland wird ein sehr kritischer Umgang mit allem gepflegt, das nicht geradlinig und effizient und perfekt läuft. Dabei ist es doch ein ganz normaler Prozess, im Leben wie auch in der Literatur gehört das Scheitern dazu und ermöglicht erst eine Weiterentwicklung.

Das Interview führte Maximilian von Platen.

Nancy Hünger: Zur Person

Nancy Hünger, geboren 1981, studierte Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie ist Schriftstellerin und lebt inzwischen in Tübingen, da sie seit 2022 das Studio Literatur und Theater der Universität Tübingen leitet. Sie erhielt diverse Auszeichnungen: Im Herbst 2008 ein Hermann-Lenz-Stipendium, 2012 das Dürener Förderstipendium Lyrik. 2011 war sie Jenaer Stadtschreiberin, 2013 Stipendiatin des Künstlerhauses Edenkoben. 2014 erhielt sie den Caroline-Schlegel-Förderpreis der Stadt Jena, 2015 das Thüringer Literaturstipendium Harald Gerlach. 2018 war sie Tübinger Stadtschreiberin und 2020 erhielt sie ein Sonderstipendium der Kulturstiftung Thüringen. Zuletzt erschienen: 4 Uhr kommt der Hund. Ein unglückliches Sprechen. Dresden: Edition Azur, 2020; abwesenheit. Über Wolfgang Hilbig. Essay. Heidelberg, 2022.