Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2023: Leute

Ein Wissenschaftler der alten Schule

Zum Tode von Professor Dr. Joachim Neugebauer ein Nachruf von Jobst Wendt

Am 12. Mai 2023 verstarb plötzlich und völlig unerwartet mein Kollege und guter Freund Joachim Neugebauer, wenige Tage vor der Vollendung seines 87. Lebensjahres. Er wurde am 30. Mai 1936 im brandenburgischen Vietz geboren, das heute zu Polen gehört. Von seinem Vater, der das Uhrmacher-Handwerk betrieb, hatte er den Blick auf kleinste Details und ihr Zusammenspiel geerbt. Dieser Hang zur größtmöglichen Genauigkeit sollte in seinem späteren Beruf eine wichtige Rolle spielen. Seine Kindheit und Jugend waren nicht einfach und verliefen, bedingt durch die Nachkriegswirren, auf verschlungenen Pfaden, die ihn bis zu seinem 17. Lebensjahr in der damaligen DDR heimisch werden ließen. Zeitweise arbeitete er im Geschäft seines Vaters mit, das er bis zu dessen Tod alleine weiterführte. Das Handicap mit Russisch als einziger Fremdsprache in der Schule konnte er erst spät in der Oberschule in Hechingen überwinden, wo er sich in mühsamem Selbststudium die fehlenden Englisch- und Lateinkenntnisse aneignete und schließlich am Tübinger Kepler-Gymnasium das Abitur machte, das ihn für immer an Tübingen band. 

Seine Berufung zur Geologie kam erst mit dem Studium und durch seinen inspirierenden und vielseitigen Lehrer Reinhard Schönenberg. Bei ihm promovierte er 1970 mit einer Arbeit über die altpaläozoische Schichtfolge, den Deckenbau und den Metamorphose-Ablauf im Saualpen-Kristallin der Ostalpen. Einige Jahre lang blieb er dieser Thematik eng verbunden, bis ihn plötzlich der von Adolf Seilacher ins Leben gerufene Sonderforschungsbereich „Palökologie“ in Bann zog und er zur Sedimentologie wechselte. In diesem weit gespannten Forschungsgebiet publizierte er acht Jahre lang bahnbrechende Arbeiten zur Fossildiagenese, einem bis dahin kaum beachteten Thema, das ihm internationale Anerkennung bescherte. 1975 erhielt er den Credner-Preis und das damit verbundene Stipendium. Doch nach diesem „Seitensprung“ in die Paläontologie kehrte er zur Strukturgeologie zurück, ein Forschungsgebiet, in dem er sehr erfolgreich arbeitete und das ihn bis zum Ende seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nicht mehr losließ. In diese Phase fällt auch das zusammen mit seinem Doktorvater verfasste Lehrbuch „Einführung in die Geologie Europas“, das rasch zur Pflichtlektüre für jeden Studenten wurde, der das Diplom bestehen wollte. Es war ein Standardwerk und so beliebt, daß es in 25 Jahren bis 1996 sieben Auflagen erlebte, von denen jede dem neuesten Stand des Wissens entsprach. 

Sein Arbeitsgebiet ging bald weit über die Ostalpen hinaus und reichte bis in die Argolis, nach Kreta, die Türkei, Spanien und Marokko. Nach der Emeritierung seines Doktorvaters übernahm er für drei Jahre dessen Stellvertretung, bis er 1980 zum Professor für Strukturgeologie berufen wurde. Dazu gehörte natürlich auch die Plattentektonik, die damals in Deutschland eher zögerlich aufgenommen wurde. Sie bestimmte auch sein späteres Lebenswerk, das er 2013 mit einer neuen Theorie zur Bildung des zentralen und nördlichen Atlantiks krönte. 

Wir lernten uns in unserer Studienzeit in Tübingen gegen Ende der 1950er Jahre kennen und versuchten nach der Habilitation in gemeinsamen Lehrveranstaltungen, Generationen von Studenten die Grundlagen der Geologie näher zu bringen Mit keinem anderen habe ich so viele Tage im Gelände verbracht wie mit ihm, darunter sechs Wochen in der marokkanischen Sahara und über zwanzig Mal auf Kartierkursen und Exkursionen in Südfrankreich, im kantabrischen Gebirge Spaniens, auf Sardinien, Elba und der Insel Hydra in der Ägäis. Von ihm habe ich gelernt, meinen anfangs engen Blick auf die reine Paläontologie, die Fossilien, das umgebende Gestein und die Schichtfolge zu erweitern. Ich lernte, die Struktur der sie aufbauenden Gebirge, ihre Umgestaltung zur Landschaft und die übergeordneten Zusammenhänge zu begreifen, die den Inhalt der Geologie als Ganzes ausmachen. Viele Diskussionen im Gelände hat es dazu gebraucht, die mit gegensätzlichen Ansichten begannen und fast immer in übereinstimmenden Interpretationen endeten. Nur einmal mußte ich mir einen unwiderlegbaren Vorwurf gefallen lassen. “Mußt Du immer den teuersten Wein kaufen?“ Dazu konnte ich nur schweigen, blieb aber trotzdem angesichts des erschwinglichen Preises standhaft bei meiner Vorliebe. 

Viele gesellige Abende haben wir in seinem gemütlichen Haus in Belsen verbracht, dem malerischen Vorort von Mössingen am Fuß der Schwäbischen Alb und er mit seiner Frau Ursula in dem unsrigen in Hagelloch. Immer vertieften wir uns in endlose Gespräche, die mit unserem zunehmendem Alter und dem Abschied von der produktiven Wissenschaft mehr und mehr zur Erinnerung wurden. Jetzt hat er auf dem kleinen Friedhof mit der romanischen Kapelle seines Heimatdorfes seine letzte Ruhe gefunden. Mein Gedenken und Mitgefühl gelten seiner Witwe, seinen vier Kindern und zehn Enkelkindern.