Uni-Tübingen

Die digitale Lernplattform "Offene Geschichte"

Seit der ersten Förder­periode pflegt der SFB eine intensive Zusammen­arbeit mit Schulen, Schüler*innen und der Fach­didaktik. Zudem zeigte das schulische Interesse an der SFB-Ausstellung eine gesteigerte Nachfrage nach historischem Orientierung­swissen. Vor dem Hintergrund des Jahres 2020 und der globalen Corona-Pandmie stieg zudem der Bedarf an digitalen Lern­formaten. Als öffentlich finanzierter Forschungs­verbund reagiert der SFB auf diesen Bedarf mit der digitalen Lern­plattform (www.offene-geschichte.de). Mit ihr unterstützt der SFB Schulen dabei, Geschichts­unterricht auch unter den schwierigen Pandemie­bedingungen zu einem spannenden Lern­erlebnis zu machen. Die Plattform wurde von Wissenschaflter*innen des SFB in Zusammen­arbeit mit dem Institut für Geschichts­didaktik und Public History entwickelt. Die Plattform startete im Dezember 2020 mit fünf Unterrichts­modulen, die verschiedene historische Situationen in den Blick nehmen. Menschen und Ordnungen sahen sich in diesen Momenten mit einer besonderen Bedrohungslage konfrontiert. Darunter etwa „Deutschland nach dem Kriegs­ende 1945“, „die Pest“ oder „die Reaktor­katastrophe von Tschernobyl“. Die Plattform wird während der dritten Förder­phase (2019–2023) regelmäßig durch neue Lern­module ergänzt sowie durch neue Funktionen und Aufgaben­formate erweitert.

Projektverantwortlich:

Prof. Dr. Bernd-Stefan Grewe, OStR Rainer Lupschina

Projektteam:

Samantha Hilsdorf, Roman Krawielicki, Alexandra Mühlnikel, Johannes Thiede, Joshua Wiemann, Thorsten Zachary

Designkonzept und Realisierung:

DITHO Design GmbH (Köln)

Wissenschaftskommunikation und Kontakt:

Thorsten Zachary, thorsten.zacharyspam prevention@uni-tuebingen.de

Anliegen der Plattform

Mit der Lern­plattform www.offene-geschichte.de wird das dem SFB zugrundeliegende wissenschaftliche Modell des auf den Geschichts­unterricht übertragen. Das SFB-Modell kann auf bekannte und im Lehr­plan relevante Gegen­stände des Geschichts­unterrichts besonders gut angewendet werden, weil es die Offen­heit und Kontingenz historischer Situationen betont und den Lernenden Alteritäts­erfahrungen und eine eigene historische Sinn­stiftung ermöglicht.

Die Lern­plattform macht anhand mehrerer thematisch strukturierter Lern­module die grundsätzliche Offenheit historischer Entscheidungs­situationen unter­suchbar, die in herkömmlichen Unterrichts­medien (insbesondere Schul­büchern) stets als Bestandteile einer bereits fertigen und auktorialen Geschichts­narration präsentiert wird. So eine Erzählung bietet nur wenig Raum für eigene Interpretationen der Schüler*innen. Genau für diesen didaktisch oft geforderten, aber bislang kaum umgesetzten ergebnis­offeneren Lern­prozess benötigt es neue Lern­mittel, die auch den Medien­gewohnheiten jüngerer Generationen ent­gegenkommen. Um diesen Medien­gewohnheiten gerecht zu werden, greift Teil­projekt auf die erfolgreiche Ko­operation mit der Agentur DITHO zurück, mit der der SFB bereits in seiner virtuellen Ausstellungen (www.bedrohte-ordnungen.de) zusammengearbeitet hat und die das Design und Programmierung der Plattform übernimmt.

Geschichtsunterricht soll spannender werden. Genau dafür bieten die dramatischen Krisen, die der Sonderforschungsbereich ‘Bedrohte Ordnungen‘ erforscht, den perfekten Ausgangspunkt. Mit der Corona-Pandemie erleben Lernende derzeit zudem hautnah das, was der SFB historisch untersucht. Mit dem Erkenntnismodell des SFB können wir Lernenden helfen, diese Gegenwart besser einzuordnen und zeigen ihnen, dass die eigene Zukunft nicht von historischer Entwicklung vorgezeichnet ist.

Professor Dr. Bernd-Stefan Grewe

Narrative Kompetenz und historische Offenheit

Kern aller aktuellen geschichts­didaktischen Modellierungen des historischen Lernens ist die narrative Kompetenz: Am Ende ihrer Schulzeit sollen Schüler*innen in der Lage sein, sich aus Quellen und Dar­stellungen eine historische Erzählung zu erarbeiten, die empirisch, normativ und narrativ triftig ist. Der Geschichts­unterricht hilft ihnen dabei, ein reflektiertes und (selbst-)­reflexives Geschichts­bewusstsein auszubilden, mit dessen Hilfe sie sich in Gegen­wart und Zukunft orientieren können. Hierin stimmen alle didaktischen Konzeptionen und die Bildungspläne der Bundesländer überein. Analysen der staatlich zugelassenen Lehr­werke und die empirische Aus­wertung von Geschichts­stunden verweisen allerdings immer wieder auf ein großes Problem der schulischen Geschichts­vermittlung: Zu oft sind die historischen Narrationen, die angeboten werden, sehr verfestigt und lassen den Lernenden nur wenig Freiräume, um selbst aus verschiedenen Quellen und wissen­schaftlichen Interpretationen historischen Sinn zu erarbeiten.

Das liegt auch daran, dass viele Lehr­werke nicht nur Arbeits­anregungen zur Quellen­arbeit bereitstellen, sondern in Verfasser*innen­texten die fertige Inter­pretation und das historische Narrativ gleich mitliefern, so dass die Lernenden über­haupt nicht mehr die Möglichkeit erhalten, selbst und eigen­ständig die vergangene Situation zu verstehen. Viele der in der Schule zur Unter­suchung genutzten Materialien sind so eindeutig auf ein bestimmtes Er­kenntnisziel ausgelegt, dass den Lernenden nur wenig Raum für eine eigene Sinn­stiftung bleibt. Das gesamte Arrangement und die Darstellung unterstellen dabei oft eine vermeintliche Ein­deutigkeit der historischen Entwicklung, die tatsächlich von den Zeit­genoss*innen als viel ergebnis­offener und spannender wahr­genommen und inter­pretiert wurde. Die meisten der alternativen Handlungs­optionen und die Kontingenz der historischen Situationen fallen im Geschichts­unterricht unter den Tisch.

Konzeption der Plattform

Die Platt­form nutzt das Erkenntnis­modell des SFB. ‚Bedrohte Ordnungen‘ liefert nicht nur einen Zugang zu historischen Situationen, in denen diese Ordnungen durch eine scheinbare oder reale Bedrohung heraus­gefordert werden und auf diese reagieren müssen, sondern das ur­sprünglich primär für die systematische und vergleichende Er­schließung neuer Themen entwickelte Modell hat vor allem eine Eigen­schaft, die es für das historische Lernen besonders gewinn­bringend macht: Es legt sein Augenmerk auf Entscheidungs­situationen, die grundsätzlich offen sind und von den Zeit­genoss*innen als kontingent erlebt wurden.

Die Konstellationen, die in den Projekten des SFB untersucht werden, sind durch eben diese Kontingenz gekenn­zeichnet: Weil sich eine Ordnung als bedroht erlebt, entstehen unter­schiedliche Wahr­nehmungen der jeweiligen Bedrohung, die zu einer Selbst­alarmierung der Ordnung führen, so dass verschiedene Lösungs­ansätze diskutiert werden und oft unter Zeit­druck Ent­scheidungen hinsichtlich einer un­gewissen Zukunft zu treffen sind. Eine solche Konstellation bietet nicht nur für die Forschung, sondern auch für Unterrichts­zwecke einen idealen Anhalts­punkt, der einen multi­perspektivischen Zugang zur Offen­heit und Kon­tingenz historischer Situationen ermöglicht. An solchen Kon­stellationen können Schüler*innen die Alterität vergangener Lebenswelten erfahren und lernen, dass historische Prozesse und Ent­wicklungen keineswegs so zielgerichtet und eindeutig verliefen, wie es in Schulbuch­darstellungen oder geschichts­kulturellen Narrationen sonst erscheinen kann. Auch der Konstrukt­charakter bereits fertiger historischer Er­zählungen wird so offensichtlich, kann hinterfragt und dekonstruiert werden.

Die Forderungen nach einer narrativen Kompetenz, die sich auf die Re-Konstruktions- und De-Konstruktions­kompetenz stützt, sind von Geschichts­didaktiker*innen mehrfach erhoben worden. Doch Unterrichts­material, das der Kontingenz historischer Situationen Rechnung trägt und eine ergebnis­offene Re-Konstruktion der Lernenden ermöglicht, existiert bislang nicht oder enthält solche Angebote nur in einer homöo­pathischen Dosis. Geschichts­schulbücher unterliegen den Zulassungs­bedingungen der jeweiligen Kultus­bürokratie und können aus diesem Grund nur wenig neue Akzente setzen, wenn sie diese ministerielle Genehmigung erhalten und im jeweiligen Bundes­land zugelassen werden wollen. Wenn die Lehr­kräfte nicht aus eigenem Antrieb weitere Lern­anlässe und Themen mit Zusatzmaterial in den Unterricht ein­bringen, dann erhalten Schüler*innen nur sehr selten die Möglichkeit, selbst mit der Kontingenz historischer Situationen umzugehen und sie als für die Zeitgenoss*innen offene Situation zu verstehen.

Die Platt­form überträgt nun das erfolgreich erprobte SFB-Modell als zugrunde­liegendes Konzept auf bestehende Lehr­plan­inhalte des Geschichts­unterrichts übertragen. Dieser Transfer soll es ermöglichen, historischen Situationen die Offen­heit und Kon­tingenz zurückzugeben, die ihnen bei der Behandlung in Lehr­werken und Unterricht oft verloren gehen. Dazu eignen sich historische Phänomene und Kon­stellationen besser, die den Lehr­kräften an den Gymnasien nicht völlig fremd sind.

Die Plattform wirft den Blick dezidiert auf die Offen­heit und Kon­tingenz dieser im Lehr­plan vor­gesehenen historischen Situationen und lässt die möglichen Handlungs­alternativen der Zeit­genoss*innen auch in ihrer diskursiven Rahmung sichtbar werden. Gleichzeitig werden die Lehrer*innen und Schüler*innen nicht überfordert. Gerade auch in Bezug auf die Öffnung des Geschichts­unterrichts hin zu mehr global­historischen Frage­stellungen bietet das Konzept der ‚Bedrohten Ordnungen‘ neue Blickwinkel und Anwendungs­möglichkeiten, ohne diese Themen eurozentrisch zu präfigurieren.

Die Lernplattform erhebt ausdrücklich nicht den Anspruck ein das gesamte Curriculum des Geschichts­unterrichts um­fassendes Lehr­werk zu sein. Da in einem solchen Prozess ohnehin viel von der Innovations­kraft des Projekts spätestens im Zuge des benötigten Zulassungs­verfahrens wieder verloren ginge, stellt die Plattform Unterrichts­materialen für Lehrplan­konforme historische Phänomene bereit, die als Zusatz­material nicht der ministeriellen Genehmigung bedürfen. Ein solches Zusatz­material, das mit öffentlichen Mitteln konzipiert, entwickelt und erstellt wurde, sollte deshalb grund­sätzlich für Schulen kosten­frei zu nutzen sein. Deshalb soll das didaktisierte Unterrichts­material für eine online-Nutzung entwickelt werden, so dass es nicht nur in einzelnen Bundes­ländern oder nur in Deutschland zu nutzen wäre, sondern allen interessierten Lehr­kräften zur Verfügung stehen kann.