Uni-Tübingen

6 Ausgangsbereich RS–; relevante Schnittstellen PS+/RS+; PS+/RS–; PS–/RS+

6.1 Polysemie in der Verarbeitung

Linguistik/Germanistik und Linguistik/Romanistik mit Literaturwissenschaft und Jura

Im Bereich der lexikalischen Ambiguität hat sich die Psycholinguistik bisher für die Polysemie nur im Kontrast zur Homonymie interessiert (z.B. Frazier/Rayner 1990; Pylkkänen et al. 2006). Die interne Struktur polysemer Wörter spielte bisher keine Rolle. Dass die interne Struktur relevant ist, konnte in der Semantik z.B. für deverbale Nomen gezeigt werden (Brandtner/von Heusinger 2010). Zur internen Struktur der Polysemie gehört zweifellos – ein wichtiger Unterschied zu Homonymie – die Typik der semantischen Relationen, vor allem metonymischer, z.B. während (temporal vs. kausal), metaphorischer, z.B. kurz (lokal vs. temporal), und taxonomischer Art, z.B. men (‚Menschen‘ vs. ‚Männer‘), die zwischen den involvierten Bedeutungen bestehen und die in sehr vielen Fällen das synchron „gefrorene“ Resultat eines früheren Bedeutungswandels darstellen (Blank 2003). Es soll zum einen anhand experimenteller Rezeptionsstudien geklärt werden, welche Prozesse für die Ambiguitätsauflösung bei Polysemen verantwortlich sind, welche Rolle dabei die genannten semantischen Relationen spielen und welche Bedingungen für die Koexistenz unterschiedlicher Lesarten gelten (RS). Zum anderen soll untersucht werden, inwieweit das Phänomen der Polysemie in unterschiedlichen Textsorten (Alltagssprache, literarische und juristische Texte) auftaucht und strategisch genutzt wird (PS+).

Literatur:

Blank, Andreas (2003). “Polysemy in the Lexicon and in Discourse.” In: Polysemy: Flexible Patterns of Meaning in Mind and Language. Hg. Brigitte Nerlich, Zazie Todd, Vimala Herman und David D. Clark. Berlin: De Gruyter, 267-293.

Brandtner, Regine; Klaus von Heusinger (2010). “Nominalization in Context – Conflicting Readings and Predicate Transfer.” In: The Semantics of Nominalizations across Langua­ges and Frameworks. Hg. Monika Rathert und Artemis Alexiadou. Berlin: De Gruyter, 25-49.

Frazier, Lyn; Keith Rayner (1990). “Taking on Semantic Commitments: Processing Multiple Meanings vs. Multiple Senses.” In: Journal of Memory and Language 29.2, 181-200.

Pylkkänen, Liina; Rodolfo Llinás; Gregory L. Murphy (2006). “The Representation of Polysemy: MEG Evidence.” In: Journal of Cognitive Neuroscience 18.1, 97-109.

6.2 Bedeutungswandel und Rezeption literarischer Texte (am Beispiel der frühen Neuzeit)

Literaturwissenschaft/Anglistik und Linguistik/Romanistik mit Neutestamentlicher Wissenschaft und Latinistik

Ausgangspunkt für das Dissertationsprojekt ist die Beobachtung, dass in Texten der frühen Neuzeit ein hohes Maß an Innovationen im Bereich des Lexikons zu finden ist. Dies betrifft die Einführung neuer Bedeutungen und coinages (z.B. „air“ in William Shakespeares The Winter’s Tale). Neben dieser synchronen Betrachtung im Hinblick auf den Entstehungszeitraum der Texte können vielfach auch diachron Abweichungen zur heutigen Bedeutung der Wörter festgestellt werden (z.B. kann „nothing“ etwa bei Shakespeare und John Donne im Sinne eines double entendre neben ‚nichts‘ noch weitere Bedeutungen annehmen). Damit stellt sich einerseits die Frage, welcher Wandel in der Produktion initiiert wurde (PS+/PS) und welche semantischen Relationen diesem zugrunde liegen. Bei der Analyse kann hier u.a. auf in der Romanistik erarbeitete Modelle zum Bedeutungswandel zurückgegriffen werden (Blank 1997; Koch 2001a). Andererseits betrifft dies vor allem die Auswirkungen auf die Rezeption (RS): Werden neu entstandene Ambiguitäten vom Rezipienten erkannt und dis­ambiguiert, etwa im Fall von „nothing“ oder auch von „gay“? Kann für bestimmte Wörter in den literarischen Texten rezipientenseitig eine semantische Reanalyse (vgl. Detges/Waltereit 2002) angenommen werden? Und wie verhält sich dies für heutige Rezipienten, d.h. schränkt das Missverständnis bzw. die historisch „falsche“ Interpretation das Verstehen des Textes zwingend ein? Somit wird im Projekt eine diachronische Betrachtung der semantischen Entwicklung einzelner Wörter (Sprachwandel) verbunden mit einer Analyse des Kontexts sprachlicher Äußerungen in literarischen Texten, der vom Rezipienten zur Entschlüsselung der Textbedeutung genutzt wird (Literaturwissenschaft/Hermeneutik).

Literatur:

Blank, Andreas (1997). Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen. Tübingen: Niemeyer.

Detges, Ulrich; Richard Waltereit (2002). “Grammaticalization vs. Reanalysis: A Semantic-Pragmatic Account of Functional Change in Grammar.” In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 21.2, 151-195.

Koch, Peter (2001). “Bedeutungswandel und Bezeichnungswandel: Von der kognitiven Semasiologie zur kognitiven Onomasiologie.” In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 121, 7-36.