Uni-Tübingen

2 Ausgangsbereich „Schnittstellenphänomene“

2.1 Ambiguität und Vagheit

Philosophie mit Linguistik

Paradigmatische Fälle von vagen Prädikaten, wie „groß“, „kahl“, „Haufen“ und „Kind“, sind u. a. dadurch charakterisiert, dass es Grenzfälle gibt, auf die das Prädikat weder klarerweise zutrifft noch klarerweise nicht zutrifft. Worin besteht Vagheit dieser Art? Nach dem gängigsten Ansatz hat Vagheit ihre Quelle in der Ungenauigkeit sprachlicher Bedeutung. Ein vages Prädikat hat keine bestimmte Eigenschaft als Bedeutung. Es gibt vielmehr eine Menge von Eigenschaften, die sich systematisch ähneln und die alle geeignete Kandidaten für die Bedeutung des Prädikats sind. Diese Kandidaten entsprechen verschiedenen Möglichkeiten, die Grenze zwischen dem Zutreffen und dem Nichtzutreffen des Prädikats zu ziehen, z. B. als Antwort auf die Frage, bei welchem Alter die Grenze zwischen einem Kind und einem Nicht-Kind liegt. Nach linguistischen Theorien der Vagheit, wie dem Supervaluationismus, ist ein Gegenstand ein Grenzfall eines vagen Prädikats, wenn nach manchen Bedeutungspräzisierungen das Prädikat auf den Gegenstand zutrifft, während nach anderen Präzisierungen das Prädikat nicht zutrifft. Da linguistischen Vagheitstheorien zufolge vage Prädikate eine Vielzahl von Bedeutungskandidaten mit einer gemeinsamen Kernbedeutung besitzen, erscheint semantische Vagheit auf den ersten Blick als eine Form systematischer Ambiguität (Polysemie). Der einfachen Subsumierbarkeit widersprechen allerdings eine Reihe von Unterschieden. In typischen Fällen systematischer Ambiguität gibt es verschiedene tatsächliche Bedeutungen des Ausdrucks, von denen eine bestimmte Bedeutung bei der Verwendung des Ausdrucks ausgewählt wird. In typischen Fällen semantischer Vagheit hingegen verwendet ein/e Sprecher/in den Ausdruck, ohne sich für eine bestimmte Bedeutung zu entscheiden, wobei oft die Menge und Feingliedrigkeit der möglichen Präzisierungen eine Disambiguierung sogar unmöglich machen (PS–). Diesem Unterschied entsprechend scheinen Aussagen mit mehrdeutigen Komponenten andere Wahrheitsbedingungen zu besitzen als Aussagen mit vagen Komponenten. Während semantische Ambiguität und semantische Vagheit in der Regel getrennt untersucht werden, legt ihre Ähnlichkeit eine detaillierte Erörterung nahe, ob semantische Vagheit eine Form von semantischer Ambiguität ist oder ob es sich hier um substanziell verschiedene Phänomene handelt.

 

2.2 Wenn Ambiguität zu Ambivalenz führt

Psychologie mit Rhetorik

Ambiguität und Ambivalenz werden jeweils in zahlreichen Forschungsfeldern der Psychologie thematisiert (Ziegler 2010), darin aufgrund der Unterschiedlichkeit der beiden Konzepte jedoch voneinander unabhängig untersucht. Das Vorhaben widmet sich der Frage nach einer möglichen Interdependenz von Ambiguität und Ambivalenz im Kommunikationszusammenhang. Konkret soll untersucht werden, ob Ambiguität Auslöser von Ambivalenz sein kann. Dabei wird Ambiguität als interpretative Mehrdeutigkeit verstanden, Ambivalenz als Doppelwertigkeit (Ziegler 2010). Bezogen auf den Forschungsgegenstand der Personwahrnehmung kann Ambiguität z. B. bezüglich des Verhaltens einer Person gegeben sein, das positiv oder negativ interpretiert werden kann (vgl. das Donald-Paradigma; Higgins/Rholes/Jones 1977). Ambivalenz liegt in diesem Kontext dann vor, wenn eine Person gleichzeitig positiv und negativ bewertet wird (vgl. Ziegler/Schlett/Casel/Diehl 2012). Während klar belegt ist, dass positive (negative) Informationen über eine andere Person zu einer positiven (negativen) Bewertung der Person führen, soll in diesem Projekt untersucht werden, inwieweit ambige Informationen über eine andere Person zu einer ambivalenten Bewertung dieser Person führen (RS–). Dazu erhalten Teilnehmer im Rahmen eines Experiments Informationen über das Verhalten einer Person, das positiv oder negativ gedeutet werden kann (z. B. „Peter hat Petra gestern auf der Straße nicht gegrüßt.“). Vorab werden beide Deutungsmöglichkeiten angedeutet (z. B. „Peter war auf dem Weg ins Krankenhaus. Er hatte gerade von einem Autounfall seines Bruders erfahren“ und „Vor ein paar Tagen hatten sich Paul und Peter länger unterhalten, u. a. auch über Petra, eine gemeinsame Kommilitonin. Dabei hatte Peter erwähnt, dass er sie komisch finde“). Zudem werden je nach Bedingung eine positive Deutungsmöglichkeit (z. B. „Peter war völlig durcheinander, da er sich furchtbare Sorgen um seinen Bruder machte“), eine negative Deutungsmöglichkeit (z. B. „Paula, die auf der anderen Straßenseite an einer Bushaltestelle stand, hatte gesehen, wie Peter kurz vorher den Kopf senkte“), beide Deutungsmöglichkeiten oder keine der beiden Deutungsmöglichkeiten nahegelegt. Die Bewertung der Person sollte im positiven Fall am positivsten ausfallen, im negativen Fall hingegen am negativsten. Die Ambivalenz in der Bewertung sollte in den beiden anderen Bedingungen am höchsten sein. Das Projekt soll damit erstmals die Interdependenz von Ambiguität und Ambivalenz belegen.

Bibliographie:

Higgins, E. Tory; William S. Rholes und Carl R. Jones (1977). "Category Accessibility and Impression Formation." Journal of Experimental Social Psychology 13.2: 141-154.

Ziegler, René (2010). "Mood, Source Characteristics, and Message Processing: A Mood-Congruent Expectancies Approach." Journal of Experimental Social Psychology 46: 743-752.

Ziegler, René; Christian Schlett; Kerstin Casel und Michael Diehl (2012). "The Role of Job Satisfaction, Job Ambivalence, and Emotions at Work in Predicting Organizational Citizenship Behavior." Journal of Personnel Psychology 11: 176-190.

 

2.3 Ambiguität als sozialkommunikativer Faktor: Soziale Kämpfe um Eindeutigkeit

Allgemeine Rhetorik mit Latinistik, Linguistik, Psychologie und Rechtswissenschaft

Das Schaffen angeblich „klarer Verhältnisse“ oder „klarer Standpunkte“ ist in öffentlichen Debatten ein Dauerthema. „Klartextreden“ ist oft geradezu eine politische Maxime. Tatsache ist demgegenüber aber, dass die semantische Vernebelung heute zu den politischen Standards gehört, um es möglichst vielen Recht zu machen. In parlamentarischen Kontroversen, in ideologischen Auseinandersetzungen, in politischer Propaganda und in politischen Skandalen stehen sich regelmäßig parteiliche Strategien der Verdunkelung und Beschönigung sowie Strategien der Aufklärung und Erhellung gegenüber. Das beispielhafte Dissertationsprojekt steht im Spannungsfeld von strategisch-produktiver Ambiguierung (PS+) und ihres Widerparts, der öffentlich verhandelten Disambiguierung im Sinne des Eindeutigkeitspostulats (RS+). Es widmet sich der Frage, um welche sprachlichen, textlichen und kommunikativ-interaktionalen Komponenten es im Kampf um Eindeutigkeit geht. Einflussfaktoren aus den Bereichen der nicht-strategischen Ambiguität (RS– und PS–) sollen mitberücksichtigt werden. Mit dem Projekt wird eine Öffnung zu Fragen von sozialer Makrorelevanz vollzogen. Es kann dabei einen Beitrag zur Theorie der Eindeutigkeit als Komplementärkonzept zur Ambiguität leisten. Die Dissertation soll untersuchen, wie im öffentlichen Diskurs das Ziel der Eindeutigkeit durch Ambiguitätsvermeidung verfolgt wird (PS+). Dies ist insbesondere bei der Erstellung von Normen, Verträgen und Urteilen der Fall (vgl. zur Problematik Einzelbericht Kartalova). Der komplementäre Fall in der Rezeption, die strategische Disambiguierung (RS+), kommt vor allem bei der Aushandlung der gültigen Interpretation von sozial relevanten Texten aller Art vor. Der Bereich RS- spielt bei der Analyse von politischen Diskursen/Skandalen etc. ebenfalls eine zentrale Rolle, da dort die Dekodierung von Information im Zentrum steht. Das, was gesagt wird (Literalbedeutung) muss zu dem in Relation gesetzt werden, was gemeint ist (Inferenzen; Grice 1975). Die zentrale Annahme besteht darin, dass sprachliche Strategien der Verdunkelung durch eine systematische linguistische und rhetorische Analyse aufgedeckt werden können (RS–). Als ein konkretes Beispiel kann die Analyse der sprecherbezogenen Adverbien (z. B. vorsätzlich) und die Verwendung von Modalpartikeln (eben, doch, mal, leider, etc.) in Reden und Interviews von zu Guttenberg (Guttenberg/di Lorenzo 2011) angeführt werden.

Bibliographie

Grice, Herbert Paul (1975). "Logic and Conversation." Speech Acts. Syntax and Semantics. Hgg. Peter Cole und Jerry L. Morgan. New York: Academic. 41-58.

Guttenberg, Karl-Theodor zu und Giovanni Di Lorenzo (2011). Vorerst gescheitert. Wie Karl-Theodor zu Guttenberg seinen Fall und seine Zukunft sieht. Freiburg: Herder.

 

2.4 Ambiguitätsauflösung durch sprachbegleitende Gesten

Linguistik mit Rhetorik

In der Rhetoriktradition sind die Körperausdrucksformen (Mimik, Gestik, Stimme) als performative Begleiter des akustischen Redetextvortrags mit eigenem Bedeutungspotenzial schon immer ein Thema gewesen; in Alltagsgestenrepertoires, in Pantomimik, Theater und Stummfilm brachten sie es sogar zu eigenen Codes (Wiegeler 2012). Auch in der neueren Semiotik und in der Psychologie stellen die sprachbegleitenden Gesten inzwischen ein relativ gut untersuchtes Phänomen dar. Hingegen blieben sie bisher in der theoretischen Linguistik weitest-gehend unbeachtet. Eine der wenigen Studien zu formal-semantischen Aspekten sprachbegleitender Gesten (Ebert 2014) analysiert sehr überzeugend modifizierende ikonische Gesten in einem multidimensionalen Bedeutungsmodell als not-at-issue material (s. Potts 2005, 2012). Im Rahmen des Dissertationsprojekts soll in Kooperation mit Dr. Cornelia Ebert (Universität Stuttgart) mithilfe psycholinguistischer Experimente untersucht werden, ob sprachbegleitende ikonische Gesten zur Ambiguitätsauflösung genutzt werden können (z. B. bei lexikalischer Ambiguität), und wenn ja, ob sie sich ähnlich verhalten wie modifizierende Gesten, also not-at-issue material sind, oder ob wir es hier mit einem wahrheitswertrelevanten nicht-sprachlichen Beitrag zur Äußerungsbedeutung zu tun haben. In einem ersten Schritt (RS–) sollen unter Verwendung gängiger Tests für not-at-issue material (s. z. B. Tonhauser, 2012) Probanden Videosequenzen präsentiert werden, die sie bezüglich ihrer Akzeptabilität (Skala 5-1) bewertet werden sollen (RS–, vgl. Bsp. (1)).

(1) Peter hat gestern angeblich auf einem Ball jongliert. Geste beschreibt einen Kreis.

(2a) Nein, das stimmt nicht, Peter hat auf einer Tanzveranstaltung jongliert.

(2b) Nein, das stimmt nicht, Peter hat auf einem Hochseil jongliert.

Wenn auch im Falle der Ambiguitätsauflösung bei Homonymie sprachbegleitende Gesten not-at-issue sind, sollte der Dialog (1)-(2a) signifikant schlechter bewertet werden als (1)-(2b). In einem zweiten Schritt (PS+) soll analysiert werden, wie ambiguitätsauflösende sprachbegleitende Gesten in der Produktion, z. B. in Kabarett und Film, strategisch genutzt werden. Die Einbeziehung gestischer Information bei der Ambiguitätsauslösung und -auflösung liefert außerdem wichtigen Input für die kognitive Modellierung von Ambiguität und fügt eine weitere multimodale Komponente hinzu.

References

Ebert, Cornelia (2014). "The Non-at-Issue Contributions of Gestures and Speculations About Their Origin." Gastvortrag. Workshop: Demonstration and Demonstratives. Universität Stuttgart.

Potts, Christopher (2012). "Conventional Implicature and Expressive Content." Semantics: An International Handbook of Natural Language Meaning. Band 3. Hgg. Claudia Maienborn, Klaus von Heusinger und Paul Portner. Berlin et al.: Mouton de Gruyter. 2516-2536.

Potts, Christopher (2005). The Logic of Conventional Implicatures. Oxford University Press.

Tonhauser, Judith (2012). ''Diagnosing (not-)at-issue Content." Proceedings of Semantics of Underrepresented Languages of the Americas (SULA) 6. Massachusetts: GLSA. 239-254.

Wiegeler, Nikola (2012). Gebärdenrhetorik und Gebärdenkodes : vom Pantomimus bis zum Stummfilm. Berlin: Weidler.