Uni-Tübingen

7 Ausgangsbereich RS+; relevante Schnittstellen RS+/PS+, RS+/RS–

7.1 Schriftsinn und Kognitive Semantik: Primär- und Sekundärtexte aus dem lateinisch-romanischen Mittelalter

Linguistik/Romanistik mit Allgemeiner Rhetorik und Neutestamentlicher Wissenschaft

Die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn (RS+) gehörte zum intellektuellen Rüstzeug des lateinisch-romanischen Mittelalters. Die Spannweite relevanter Dokumente reicht von expliziten Metatexten (theologische Exegese, „christliche“ Lexiko-/Grammatikographie) über (exegetische) Predigttexte und über die Bestiarien und Lapidarien (zum „Sinn“ der Dinge) bis hin zu literarischen Werken, die bereits auf den mehrfachen Sinn hin angelegt sein können (PS+). Auf dem Hintergrund mittelalterlicher Zeichentheorien ist zu klären, welche semiotischen Instanzen jeweils im Spiel sind: vox, conceptus, res. Vor allem gilt es zu ergründen, welche Wege zur Erschließung eines nicht-buchstäblichen aus dem buchstäblichen Sinn angeboten werden, wobei sowohl die rhetorische Tropenlehre als auch Kategorien der Kognitiven Semantik Tertia liefern können: metaphorisches mapping, metonymisches highlighting, allegorisches blending usw.

7.2 Schriftauslegung als Ambiguitätsbewältigung: Die Entwicklung des mehr­fachen Schriftsinns im Prozess der Auslegung des Neuen Testaments in der altkirchlichen Tradition

Neutestamentliche Wissenschaft mit Linguistik/Romanistik, Allgemeiner Rhetorik und Latinistik

Die Rezeption der neutestamentlichen Texte dient von Beginn der urchristlichen Tradition an deren Disambiguierung (RS+, aber auch RS). Die dazu eingesetzten Strategien schließen sich an die allegorische Schriftauslegung an, wie sie von dem jüdisch-hellenistischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien praktiziert wurde (1. Jh. n. Chr.). Auf je unterschiedliche Weise setzen Origenes (186-254 n. Chr.) und Augustin (354-430 n. Chr.) Rezeptionsstrategien ein (RS+), um als Schriftausleger die von ihnen behauptete religiöse Wahrheit mit Autorität zu exponieren. Es ist zu untersuchen, wie die vorausgesetzte Ambiguität der neutestamentlichen Texte von beiden altkirchlichen Theologen (als strategische oder als nicht-strategische Ambiguität) beschrieben wird (RS+, aber auch RS). Der von Origenes behauptete mehrfache Schriftsinn ist als ihrerseits ausdrücklich ambiguie­rende Interpretationsstrate­gie zu rekonstruieren (RS+). Die Aufnahme und Transformation des mehrfachen Schriftsinns bei Augustin ist als eine weitere Strategie der Disambiguierung zu erforschen (RS+). Die hier zu erforschenden semiotischen Prozesse, ihre sprachlichen Ausformungen und ihre Pragmatik erfordern rhetorische und kognitiv-semantische Kompetenz.

7.3 Bewusst eingesetzte Ambiguität in der augusteischen Dichtung und in der Neuzeit

Latinistik mit Literaturwissenschaft/Anglistik, Neutestamentlicher Wissenschaft und Linguistik/Romanistik

Die Dichtung des augusteischen Zeitalters spielt als „gelehrte“ Dichtung von Natur aus mit Ambiguitäten, angefangen von der Bedeutung einzelner Wörter bis hin zur allegorischen Mehrfachdeutung größerer Sinnzusammenhänge. Sowohl die kulturellen und literaturge­schichtlichen Voraussetzungen dieses Phänomens wie auch vielfältige Einzelheiten sind hierzu in der Forschung geklärt (z.B. Binder 1971; Wimmel 1994; Berry 2005). Ziel des Dissertationsprojekts ist es, darüber hinausgehend eine Typisierung der anzutreffenden Am­biguitätsmuster aufzustellen und von hier aus ein neues Profil der jeweiligen Werke zu ge­winnen. Ein zentrales Forschungsziel ist dabei die Analyse der durch Reinterpretation eta­blierten Ambiguität (RS+). In dieser Perspektive erfolgt ein Vergleich mit der Dichtung anderer Kulturkreise; die Dichtung der europäischen Renaissance (hier mit Fokus auf die englische Dichtung) ist besonders geeignet, weil ihr Verhältnis zum römischen Dichtungskanon ähnlich ist wie das der römischen antiken Dichtung zum griechischen Literaturkanon.

Literatur:

Berry, Michael (2005). “Propertian Ambiguity and the Elegiac Alibi.” In: Studies in Latin Literature and Roman History. Bd. 12. Hg. Carl Deroux. Bruxelles: Édition Latomus, 194-213.

Binder, Gerhard (1971). Aeneas und Augustus: Interpretationen zum 8. Buch der Aeneis. Meisenheim: Hain.

Wimmel, Walter (1994). Sprachliche Ambiguität bei Horaz. München: Fink.