Uni-Tübingen

C 02: Bilder des Mangels und des Überflusses: Ressourcen und ihre literarische Konstruktion im Kontext der ‚Griechischen Kolonisation‘

Projektleitung: Prof. Dr. Irmgard Männlein-Robert, Prof. Dr. Mischa Meier, Prof. Dr. Karl-Heinz Stanzel

Mitarbeiter/ innen: Vincent Clausing, Dominik Delp, Xenja Herren

Zusammenfassung

Das Teilprojekt untersucht anhand dreier exemplarischer Fallstudien die literarische Präsentation, Einordnung und Bewertung agrarischer sowie sozialer Ressourcen in unterschiedlichen Räumen und Zeiten der griechischen Geschichte. Es geht dabei um die Identifikation und Analyse der literarischen Verarbeitung von ressourcenbezogenen, lebensweltlichen Erfahrungen im historischen Kontext der ‚großen griechischen Kolonisation‘ des 8. und 7. Jh. v. Chr. sowie des Frühhellenismus (3. Jh. v. Chr.). Im Zentrum stehen das Boiotien des 8. und 7. Jh. v. Chr. als historischer Bezugsrahmen für die ‚Erga kai Hemerai‘ des archaischen Dichters Hesiod sowie Ägypten in frühhellenistischer Zeit (3. Jh. v. Chr.) als Kontext für die ‚Phainomena‘ des zeitgenössischen Dichters Arat von Soloi. Damit geht es in diesem Teilprojekt um die im sozio-kulturellen Kontext der ‚großen Kolonisation‘ bisher nicht hinreichend berücksichtigten ‚poetischen‘ Zeugnisse aus archaischer Zeit und deren interpretative Rezeption im Hellenismus, die u. a. als dichterische Reflexionen und Bewertungen der lebensweltlichen landwirtschaftlichen Bedingungen im Zuge der ersten ‚Kolonisation‘ wie der ‚hellenistischen Moderne‘ gelten müssen. Die ‚Erga kai Hemerai‘ sind die einzige erhaltene Schriftquelle, die sich – wenngleich in poetischer Brechung – dezidiert mit der bäuerlichen Lebenswelt der Früharchaik auseinandersetzt und deren ökonomische und soziokulturelle Grundlagen reflektiert. Aufgrund ihres konkreten lebensweltlichen Bezugs können die ‚Phaimonena‘ als instruktives Beispiel für die frühhellenistische Hesiod-Rezeption gelten und sind daher als Quelle für die zweite Fallstudie grundlegend.

Fallstudien

Eine erste deutliche literarische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der gemeinhin als ‚Kolonisation‘ beschriebenen Migrationsbewegungen lässt sich bereits in der archaischen Dichtung konstatieren, die sich um die Wende vom 8. zum 7. Jh. v. Chr. formiert. Bei Hesiod, der sich selbst als Sohn eines Migranten aus dem kleinasiatischen Kyme beschreibt (vgl. Fallstudie 1), findet sich erkennbar das Bemühen um landwirtschaftliche Nutzung eines neu erschlossenen Naturraumes sowie ihrer poetischen Bewertung. Aus einer althistorischen wie literaturwissenschaftlichen Perspektive soll mit Blick auf die ‚Erga kai Hemerai‘ zum einen untersucht werden, welche landwirtschaftlichen – und auch sozialen – Ressourcen sich überhaupt identifizieren lassen und wie mit ihnen umgegangen wird, d. h. wie sich die Aneignung von ‚Natur‘ vollziehen kann; zum anderen geht es um die Frage, wie die neuen lebensweltlichen Bedingungen im kargen Boiotien literarisch verarbeitet und poetisch zu raumunabhängigen Anweisungen über den formal avisierten Adressaten des Textes hinaus transformiert werden (z. B. Umgang mit Wasserressourcen, Arbeitswerkzeuge, agrarische Nutzung, Ökonomie des Erwirtschafteten, bäuerliche Moralvorstellungen, Transformation von lebensweltlichem Erfahrungswissen in mythische Bilder etc.).

 

Wissenschaftlische Ziele

Ein kritischer Abgleich soll mit antiker griechischer Fachliteratur sowie mit ein-schlägigen Passus aus weiterer archaischer Dichtung (v. a. die homerische ‚Odyssee‘) sowie vor allem mit der hellenistischen Dichtung erfolgen, die dezidiert mit der ‚klassischen’ Tradition bricht und die archaische Dichtung eines Hesiod als literarisches Modell nutzt und transformiert (vgl. Fallstudie 2). Diese Form der Hesiod-Rezeption soll vor allem unter der Fragestellung untersucht werden, inwiefern sie für konkrete landwirtschaftliche Nutzung in der Zeit des Hellenismus konzipiert worden sein könnte (und damit möglicherweise auch weiteren Aufschluss über die bei Hesiod zugrunde liegende Ressour-cenproblematik geben kann) – oder ob bäuerlicher Arbeitsalltag und Ressourcenprobleme in archai-scher Zeit lediglich als poetisch reizvolles Sujet für hellenistische Eliten und Gebildete dienen sollten. Zu diskutieren wird sein, inwiefern die ‚Erga‘ Hesiods bei Arat (wie auch bei anderen hellenistischen Autoren) selbst als nicht nur literarische, sondern sogar als kulturelle oder symbolische Ressource verhandelt und ideologisch funktionalisiert werden. Untersucht werden sollen in beiden Fallstudien die jeweils konkreten Anweisungen an den im Werk avisierten Landmann im Umgang mit den verschiedenen, im Einzelnen zu identifizierenden Ressourcen. Dabei sollen vor allem die Dynamiken herausgear-beitet werden, die sich durch die sozio-kulturellen und politischen Zusammenhänge ergeben, in die der Mensch jeweils gestellt und durch die der Umgang mit den Ressourcen entscheidend bestimmt, bewertet und reflektiert wird. Daraus ergeben sich folgende miteinander verknüpfte Ziele für die Arbeit in den Fallstudien:

1. Identifikation und Analyse der ressourcenbezogenen praktisch-konkreten Anweisungen in den Texten (Arbeitsvorgangs-, Landbau- und Werkzeugbauanweisungen). Bei der anschließenden Evaluation des Befundes muss es v. a. um die Frage gehen, wie man sich den (jeweils zeitgenössischen) Umgang mit dem Erarbeiteten und seine Weiterverwertung (z. B. Transformation in soziale Ressourcen) oder die Fertigung von Arbeitsgeräten im jeweiligen historisch-situativen Kontext vorzustellen hat und ob sich aus dem Befund Hinweise auf Rolle bzw. Funktion, Ursachen und Folgen von Migration erge-ben, die dann im Kontext der sog. ‚Kolonisation‘ und der damit zusammenhängenden Forschungsparadigmata (Ursachenforschung: Landmangel, Erschließung von Rohstoffen/Ressourcen, Konflikte usw.) zu diskutieren wären. Das Projekt steht damit in enger Verbindung zu Teilprojekt B 04 Posamentir. Auch die spezifische Themenwahl der griechischen Dichter Hesiod und Arat ist hinsichtlich der Akzentuierung konkreten Nutzens und Wertes zu überprüfen.

2. Rekonstruktion des jeweiligen spezifischen sozio-kulturellen Rahmens, in welchen der Umgang mit den genannten Ressourcen sowie deren poetische Bewertung bei Hesiod wie bei Arat gestellt ist. Hier wird zu zeigen und argumentativ abzusichern sein, inwiefern auf die bäuerliche Praxis bezogene Angaben, aber auch mythisch-theologische Begründungen im archaischen Text Hesiods als tatsächlich wissensvermittelnde oder symbolisch-kulturelle Ressource für den späteren hellenistischen Dichterkollegen Arat gelten können.

3. Ausgehend von literarischen, zeitgenössischen Quellen, aber insgesamt weiter ausgreifend, soll in einer dritten Teilprojektstudie die sogenannte Große Kolonisation der Griechen untersucht werden. Dabei sollen, eine migrationstheoretische Perspektive einehmend, Erkenntnisse aus der Historischen Migrationsforschung auf die Verhältnisse in der griechischen Archaik angewandt werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen neben den materiellen vor allem die sozialen und andere immaterielle Ressourcen von Migrationsbewegungen. Es soll sich von dem Begriff der Kolonisation gelöst und bestehende Deutungen in der Forschung, wie Überbevölkerung, Landhunger, strukturelle politische Desintegration oder auch Handel als Motoren von Bevölkerungsbewegungen, hinterfragt und eingeordnet werden.

Das Projekt arbeitet eng mit dem Teilprojekt B04 zusammen.


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