Zum gemeinsamen Konzert luden am 5. Juli 2014 der Sonderforschungsbereich 923 "Bedrohte Ordnungen" und das Fichtehaus-Orchester in den Festsaal der Neuen Aula ein. Dank der Unterstützung durch die Universität Tübingen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft konnte diese Kooperationsveranstaltung stattfinden, die Musik und Forschungsthemen verband. Die Grundfragen des SFB, wie und ob sich die Modi sozialen Wandels über Epochen und Regionen verändern, erschloss mit der Umsetzung in die Musik ein neues Feld. Dies war auf gleich mehreren Ebenen von besonderem Interesse: Zum einen lassen sich in Kompositionen gesellschaftliche Veränderungen besonders gut ausmachen, zum anderen kann Musik diese auslösen. Ebensolche Verbindungen zwischen Geschichte, musikalischen Kompositionen und sozialem Wandel verdeutlichten die Kurzvorträge, die den einzelnen Konzertstücken vorangingen.
Mit Guiseppe Verdis Ouvertüre zur Oper „Macht des Schicksals“ eröffnete das Orchester unter der Leitung von Benjamin Wolf den Abend. In der Einführung des Stückes erläuterte Yvonne Macasieb, Pressereferentin des SFB 923, Grundsätzliches zu den Wechselwirkungen von Musik, Geschichte, und sozialem Wandel. In einem weiten Bogen von der Antike bis zur Moderne, verdeutliche sie hörbaren Krisen in den unterschiedlichen Epochen. Am Beispiel Verdis zeigte sie, wie sein politisches Engagement in der Oper durch subversive Texte und Melodien sichtbar wurde. So rief er mit seinen feurigen Chorsätzen, wie beispielsweise dem "Priesterchor" aus derselben Oper, zum Kampf gegen die Besatzungsmächte in Italien, unter anderem die Habsburgische Monarchie, auf. Ebenso wie mit seinem Namen. Denn der einfache Ausruf „Viva Verdi“ war zu seiner Zeit äußerst doppeldeutig. Dieser bezog sich sowohl auf den Komponisten als auch auf den König Sardinien-Piemonts, Vittorio Emanuele. So wurde aus dem Familienname des Komponisten eine geheimen politischen Botschaft: Viva V.E.R.D.I., las sich unter den Mitwissenden als rebellischer Aufruf „Viva Vittorio Emanuele (II.) Re d’Italia“ – Es lebe der König von Italien.
Das zweite Stück des Abends war Sergei Koussevitzkys Konzert für Kontrabass und Orchester. Auf gleich mehreren Ebenen zeigt die Solistin Prof. Dr. Dagmar Fenner Aspekte "Bedrohter Ordnungen" im Stück auf. Auf humorvolle Art erklärte sie die Orchester-Ordnung sowie die Rolle und Einsatz des Kontrabasses. Entgegen ihrer ordentlichen Nutzung als Hintergrundinstrument, setzte Koussevitzky die tiefen Streicher in seinem Konzert ungewöhnlich in Szene; für die Philosophin Fenner ein Beispiel für die Auflösung ebendieser musikalischen Ordnung. Darüber hinaus, führte die Rednerin aus, wurden die Kontrabassisten in der Orchesterliteratur eingesetzt, wenn Unheil drohte, wie beispielsweise in Beethovens "Pastorale". Also als ein typisches "Katastrophen-instrument" ließe sich daher der Kontrabass beschreiben. Aber nicht nur musikalisch würden solche Ausnahmesituationen hörbar gemacht, führte Fenner aus. Ganz allgemein ermöglichten Konzerte vielmehr, durch das gemeinsame, emotionale Erleben und Durch-Leben, eine wirksame soziale Verarbeitung einer post-katastrophalen Situation. Daher könnte Musik nicht nur bedrohte Ordnungen widerspiegeln, sondern zu einer ganz eigenen Form der „Bedrohungskommunikation und des Bewältigungs-Handelns“ werden, meinte Prof. Fenner. Das intensive Gemeinschafts-erlebnis brächte im Idealfall soziale Un-Ordnungen wieder ins Lot.
Als drittes Stück führte das Fichtehaus-Orchester Charles Ives „The Unanswered Question“ auf. An diesem Beispiel erklärte Prof. Fenner, dass Brüche und Erneuerungen in der Musik - oder der Kunst allgemein – aus gesellschaftlichem Wandel und sozialen Entwicklungen entstanden. So kam es nach den traumatischen Ereignissen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den freien Künsten zu einem radikalen Bruch mit traditionellen Formprinzipien. Besonders in der Musik vollzog sich eine Abkehr von den hergebrachten melodischen und harmonischen Ordnungsprinzipien. Der wichtigste, hörbare Schritt wurde dabei im Bereich der Harmonik gemacht: Die seit der Klassik übliche Dur-Moll-Tonalität gab man schrittweise auf, bis hin zur Zwölftonmusik und zur freien Atonalität. Um ein solches Werk jenseits der Tonalität handelt es sich bei Ives Komposition, das das Orchester zum Besten gab.
Als harmonischer Ausgleich zu diesem teilweise ungewöhnlichen Konzert schloss das Orchester unter der Leitung von Christiane Pfisterer-Prauser den Abend mit der Sinfonie Nr. 40 von Wolfgang A. Mozart.
Mit dem „Fichtehaus-Orchester“ gestaltete ein junger, selbstverwalteter Klangkörper unter Leitung der beiden Dirigenten den Abend. 2006 im Tübinger Studentenwohnheim „Fichtehaus“ gegründet, zählt die Gruppe zurzeit 60 studentische Musikerinnen und Musiker.
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