Der Sonderforschungsbereich Andere Ästhetik feierte die Bewilligung seiner zweiten Förderphase mit einer Festveranstaltung, für die Friedemann Vogel, erster Solist beim Stuttgarter Ballett, eigens eine Tanzperformance konzipierte. Die Aufführung stellte sich dabei der grundlegenden Frage einer ,anderen‘ Ästhetik, inwiefern höchste Artifizialität und Gesellschaftsbezug nicht als Gegensätze, sondern als Korrelate zu begreifen sind. Eröffnet wurden damit neue Perspektiven auf die zentralen Fragen des Sonderforschungsbereichs: Was leistet Kunst? Warum bewegt uns Kunst? Wie reflektiert und prägt Kunst unsere Wirklichkeit?
Der Titel der Veranstaltung „Écorché! Anatomie des Tanzes“ bezieht sich auf eine besondere Gattung von ästhetischen Objekten, die an der Schnittstelle von naturwissenschaftlicher und künstlerischer Praxis angesiedelt sind: Als Écorchés werden seit dem 16. Jahrhundert enthäutete Menschen- und selten auch Tierkörper bezeichnet, die sowohl in der Medizin wie auch in der Bildhauerei, Malerei und Graphik zentraler Gegenstand anatomischer, auf die Muskulatur fokussierender Studien waren. Diese eigenwilligen Artefakte nahmen dabei durch auffällig exaltierte Posen fast ausnahmslos eine radikale Ästhetisierung der verwundeten, zwischen Leben und Tod changierenden Körper vor und bezogen sich wiederholt auch auf unterschiedliche Tanzbewegungen und -figuren. Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund setzt sich Friedemann Vogel in seiner Performance mit dem Konzept des Écorchés auseinander, indem er den Vorgang der Enthäutung, die Darbietung der Muskeln ebenso wie einige Posen der vormodernen Objekte tänzerisch repräsentiert.
Zugleich verwandelt und überführt der Tänzer eine lange Darstellungstradition in eine innovative ästhetische Form, die gleichermaßen als Akt wie Artefakt fungiert und nun, als moderne Zelebrierung der ganz eigenen Sensualität und Sinnlichkeit des Tanzes, in einem zeitgenössischen Diskurs- und Erlebnisraum wirksam wird. Dies gelingt, indem in einer extremen Spannung scheinbar Gegensätzliches in Relation gesetzt wird: Morbidität und Brillanz, Gewaltakt und Artifizialität, Versehrtheit und Vollkommenheit formen ein Drittes, ein Neues. Dabei vollzieht sich im Medium des Tanzes eine durch die Spannungen getragene Transformation, als deren Metapher die tänzerisch umgesetzte (Selbst-)Enthäutung gelten kann: die Geschichte einer Überwindung des Körpers durch den Körper, der Hervorbringung einer spezifischen Körperlichkeit durch eine andere, der Entwicklung einer eigenen ästhetischen Form aus dem kulturellen Gedächtnis.
Doch selbst in jenen wenigen Momenten, in denen die Möglichkeit von Leichtigkeit wahrnehmbar wird, bleibt zweifellos die Rückbindung an den Körper, an die Arbeit am Körper, an den anfänglichen Gewaltakt der Enthäutung sichtbar bestehen. Die mehr anzitierte, denn erreichte Leichtigkeit im Tanz legt damit ihre Bedingung offen. Sie lässt diese nicht vergessen, zeigt sich uns daher als prekär, zerstörbar, kaum realisierbar. Die Gewaltsamkeit der Enthäutung ist gleichsam nicht abzuschütteln. Nicht im Hier und Jetzt. Nicht in unserer Gegenwart.
Und damit ist aus dem Écorché als Reflexionsfigur einer frühen künstlerischen Praxis eine neue Reflexionsfigur geworden, eine Reflexionsfigur, die in einem Grenzgang zwischen Tradition und Irritation nicht nur die Darstellungspotentiale heutigen Tanzes befragt, sondern kritisch auch überkommene Schönheitsvorstellungen, aktuelle Körperbilder, vor allem aber die Grenzen und Möglichkeiten von Kunst auch und gerade angesichts von Orten des Unrechts sowie von Zeiten der Zerstörung. In diesem Sinne ist die Aufführung gleichermaßen als Prozess wie Ergebnis einer tiefgreifenden Auseinandersetzung nicht nur mit den vormodernen Écorchés, sondern allem voran mit der bewegten charismatischen Kunstform selbst und ihrer gesellschaftlichen Stellung aufzufassen: eine Anatomie des Tanzes.
Anlass der Kooperation mit dem ersten Solisten beim Stuttgarter Ballett war die Festveranstaltung zur Fortsetzung der Förderung des Forschungsverbunds durch die DFG. Die Festveranstaltung sollte, so die Sprecherin des SFB, Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter, Kunst und Wissenschaft nicht nur im Dialog zeigen, sondern in der gemeinsamen Praxis zusammenführen. Im Zentrum des Festprogramms stand die von Friedemann Vogel, dem Choreographen Thomas Lempertz und der stellvertretenden Sprecherin des SFB, Prof. Dr. Anna Pawlak, gemeinsam konzipierte Tanzperformance. Sie wurde gerahmt von Einführungen durch Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter und Prof. Dr. Anna Pawlak, dem Festvortrag von Prof. Dr. Gabriele Brandstetter (FU Berlin) sowie einer abschließenden Podiumsdiskussion der Beteiligten mit Prof. Dr. Olaf Kramer.
Die Kooperation mit Friedemann Vogel wird in den kommenden Semestern über das Mercator Fellow-Programm der DFG ausgebaut: Geplant ist ein Hauptseminar mit Prof. Dr. Anna Pawlak: „Arts of Movement. Tanz als ästhetische Reflexionsfigur“ im Wintersemester 2024/25. Im Sommerstemester 2025 wird Friedemann Vogel gemeinsam mit Prof. Dr. Annette Gerok-Reiter u.a. eine Masterclass „Tanzfiguren – Textfiguren. Der Tanz als Thema der Dichtung vom 10. bis zum 21. Jahrhundert“ anbieten.
Als assoziiertes Mitglied wird Friedemann Vogel dem SFB Andere Ästhetik über die gesamte Förderzeit verbunden sein.