Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2010: Schwerpunkt
Nachhaltigkeit richtig verstehen
Ein historisch-philosophischer Exkurs
Eine Nachhalt-Idee findet sich bereits in der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts aufgrund der Befürchtung, man werde in Zukunft an Holz "große Noth leiden" (Carlowitz). Der Terminus "sustainable development" wurde 1987 von der sog. Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen neu geprägt: "Sustainable Development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs." Nachhaltigkeit betrifft ein Spannungsfeld von ökonomischen Entwicklungsmodellen, ökologischen Besorgnissen und sozialethischen Fragen, wie Armutsbekämpfung, Verteilungsgerechtigkeit oder die Gleichstellung von Frauen. Gerade aufgrund seiner Vieldeutigkeit und Unschärfe setzte sich das Leitbild namens "sustainable development" weltweit rasch durch, insbesondere nach dem UN-Rio-Gipfel 1992. Diese Erfolgsgeschichte ging jedoch mit einer wachsenden Inflationierung und Profillosigkeit einher. Gegen diese Tendenz zum Gerede richten sich Versuche, wissenschaftlich belastbare Nachhaltigkeitstheorien zu entwickeln.
Im politischen System hat sich das sogenannte Drei-Säulen-Modell durchgesetzt, welches eine Integration der ökonomischen, ökologischen und sozialen Belange fordert. Es postuliert die Gleichrangigkeit der drei Säulen, sagt allerdings nichts darüber, ob diese faktisch besteht oder allererst zu erreichen wäre. Als Grundlage einer theoretischen Konzeption ist das Modell ungeeignet.
Angemessener ist es vielmehr, den Begriff der Nachhaltigkeit anhand eines Ebenenmodells zu bilden, das die ethischen Prämissen, die konzeptionellen Optionen, Regelwerke und Zielsysteme sowie die zentralen Anwendungsfelder unterscheidet.
Eine Auffassung der intergenerationellen Gerechtigkeit (vereinfacht: Zukunftsverantwortung) ist die ethische Grundlage der Nachhaltigkeitsidee. Es dürfte unstrittig sein, dass wir aufgrund unseres Ressourcenverbrauchs, der Verschmutzung und Zerstörung der natürlichen Umwelt schon lange auf Kosten zukünftiger Generationen leben. Der Zukunftsverantwortung kann ein absoluter oder ein komparativer Standard zugrunde gelegt werden. Ein absoluter Standard legt fest, worauf alle Personen moralisch unabweisbare Ansprüche haben, während ein komparativer Standard verpflichtet, das durchschnittliche Wohlfahrtsniveau gegenüber einem festzulegenden Vergleichsniveau nicht sinken zu lassen. Der komparative Standard wirft mehr ethische Probleme auf als der absolute.
Während die Konzeption schwacher Nachhaltigkeit nur fordert, die Kapitalbestände einer Gesellschaft in der Summe konstant zu halten, und nahezu unbeschränkte Substitutionsprozesse zwischen Human-, Sach- und Naturkapital erlaubt, fordert die Konzeption starker Nachhaltigkeit, die Naturkapitalien unabhängig davon zu erhalten, wie andere Kapitalbestände sich entwickeln mögen. Das Herzstück der Konzeption starker Nachhaltigkeit ist die sogennante "Constant Natural Capital Rule" (CNCR).
Diese Grundregel kann zu einem Regelwerk aus Managementregeln ausgearbeitet werden. Diese besagen, dass erstens der Verbrauch nicht-erneuerbarer Ressourcen einhergehen soll mit einer Investition in erneuerbare Substitute, dass zweitens sich erneuernde Ressourcen ("lebendige Fonds") nur in dem Maße genutzt werden dürfen, in dem sie sich regenerieren und drittens, dass die ökologischen Kapazitäten von Böden, Gewässern und Atmosphäre nicht überstrapaziert werden dürfen. Hinzu kommt eine Investitionsregel, die für Länder gilt, in denen in der Vergangenheit viele Naturkapitalien verbraucht und zerstört worden sind. Sie ist als eine Regel der Korrektur und als Verbesserungs- und Gestaltungsauftrag zu verstehen.
Nunmehr kann das Drei-Säulen-Modell in die Gesamtkonzeption eingebettet werden: Die ökologische Säule ist durch das Regelwerk hinlänglich bestimmt. Die Ökonomie starker Nachhaltigkeit steht unter der Leitlinie, den Ressourceninput und den Ausstoß an Schadstoffen deutlich zu reduzieren. Das (weite) Feld des Sozialen umfasst unter anderem konsumkritische Lebensstile und entsprechende Anerkennungs- und Gestaltungsverhältnisse.
Insgesamt hat sich das theoretische Verständnis dafür, was der Begriff der Nachhaltigkeit bedeuten könnte, deutlich verbessert. Auch mit Blick auf die politische Umsetzung von Nachhaltigkeitskonzepten besteht kein Grund zu Pessimismus. Im Rahmen nationaler Nachhaltigkeitsstrategien lassen sich Ziele formulieren, die den Regeln theoretisch anspruchsvoller Konzepte entsprechen können. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie wurde ab dem Jahre 2000 institutionell verankert und kontinuierlich weiterentwickelt. Sie umfasst mittlerweile auch eine Biodiversitätsstrategie. Wir leben, so gesehen, zwar noch nicht in einer nachhaltigen Gesellschaft, aber in einer Gesellschaft, die erste Schritte auf dem Weg einer nachhaltigen Entwicklung unternimmt.
Professor Dr. Konrad Ott
Foto: privat | Gastautor Professor Dr. Konrad Ott studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik an der Universität Frankfurt am Main, an der er auch 1989 unter Jürgen Habermas promovierte. 1991 bis 1993 war er als Post-Doc-Stipendiat am Graduiertenkolleg des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Universität Tübingen. Anschließend übernahm er in den Jahren 1993/1994 als Dozent in Tübingen die Vertretung des Lehrstuhls "Ethik in den Biologischen Wissenschaften". Seit 1997 ist er Inhaber des bundesweit einzigen Lehrstuhls für Umweltethik an der Universität Greifswald. Konrad Ott war von 2000 bis 2008 Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen der deutschen Bundesregierung. |
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