Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2022: Forschung

„Die Spätantike ist ein boomendes Forschungsfeld“

Leibniz-Preis für Historiker Mischa Meier

Für seine Forschungsarbeit zur Spätantike erhält der Althistoriker Prof. Dr. Mischa Meier im Mai den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Der Preis ist mit bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert. Meier lehrt seit 2004 als Professor an der Universität Tübingen und ist unter anderem Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Bedrohte Ordnungen“, der sich mit historischen und aktuellen Krisen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Natur befasst. Johannes Baral sprach mit ihm über seine Projekte, naturwissenschaftliche Methoden in der Antike-Forschung und über die Präsenz der Antike in der Öffentlichkeit. 

Sie werden mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis, dem wichtigsten deutschen Forschungsförderpreis, ausgezeichnet. Wird damit ein bestimmtes Forschungsprojekt von Ihnen gewürdigt?

Was im Detail bei der DFG und im Leibniz-Ausschuss ausschlaggebend war, kann ich nicht sagen. Ich nehme an, es geht dabei insgesamt um meine Publikationen und Projekte zur Spätantike. Ich arbeite ja schon sehr lange zu diesem Bereich. Das begann mit meiner Habilitationsschrift, die 2003 erschienen ist, und sich mit dem 6. Jahrhundert und dem so genannten Zeitalter Justinians beschäftigt hat. Danach folgten weitere Bücher und Aufsätze zur Spätantike. Die jüngste Buchveröffentlichung von 2019 befasst sich mit der Völkerwanderung. Parallel dazu bin ich an verschiedenen Forschungsprojekten zur Spätantike beteiligt: Das Akademieprojekt zur Kommentierung der Weltchronik des Johannes Malalas, die Kollegforschungsgruppe „Migration und Mobilität in Spätantike und Frühmittelalter“, die ich mit Steffen Patzold und Sebastian Schmidt-Hofner leite, und der Sonderforschungsbereich 923 „Bedrohte Ordnungen“. Daneben gibt es noch eine Reihe kleinerer Projekte.

Wissen Sie schon, für was Sie das Preisgeld verwenden werden?

Ich werde weiterhin schwerpunktmäßig an der Spätantike arbeiten und meine bisherige Forschung zusammen mit meinen Kollegen weiter ausbauen und noch etwas mehr systematisieren. Ich möchte in Bereichen, die mich in jüngerer Zeit sehr interessiert haben, mehr in die Tiefe gehen. Das betrifft vor allem weiterhin die Frage nach Migration und Mobilität in der Spätantike und im Frühmittelalter.

Außerdem werden wir uns damit befassen, inwieweit neuere naturwissenschaftliche Methoden für unsere Untersuchungen relevant sein können. Das wären beispielsweise genetische Untersuchungen, die in letzter Zeit zunehmend durchgeführt worden sind, in denen es um die Identifikation von Pathogenen geht, also die Frage, welche Krankheiten, Epidemien und Pandemien es in der Spätantike gegeben hat. Für mich ist das wichtig, weil ich mich seit langem mit der „Justinianischen Pest“ beschäftige. Da wurde lange diskutiert, ob es sich tatsächlich um eine Pest, also die durch das entsprechende Bakterium verursachte Krankheit, und nicht etwa um eine andere Krankheit handelte. Aus unseren schriftlichen Quellen geht das nicht eindeutig hervor. Inzwischen ist durch Genuntersuchungen bewiesen, dass es tatsächlich eine Pest war. Es gibt immer mehr solcher Untersuchungen, die belegen, dass die Pest sich auch in Regionen verbreitet hat, die durch unsere schriftlichen Quellen bisher gar nicht abgedeckt waren.

Im Zusammenhang mit Genuntersuchungen ist auch die Frage wichtig, wie Verwandtschaftsverhältnisse in lokalen Gesellschaften ausgesehen haben. Da versuchen wir, die Forschungsergebnisse mit unseren schriftlichen und archäologischen Quellen zusammenzubringen, um so Einblicke in die Organisation lokaler Gesellschaften zu bekommen. Es gibt inzwischen auch immer mehr Daten, die uns deutlicher zeigen, wie sich das Klima in der Spätantike entwickelt hat, was wichtig für die Beurteilung kurz- und längerfristiger Entwicklungen ist.

Darüber hinaus würde ich auch gerne noch tiefer in die historiographische Forschung zur Weltchronik des Johannes Malalas einsteigen. Dahinter steckt unter anderem die Frage, wie Zeitgenossen auf die eigene Geschichte geblickt haben. Die Historiographie, also die zeitgenössische Geschichtsschreibung, gehört ja bis heute zu unseren Hauptquellengattungen, mit denen wir auf unsere Geschichte zugreifen. Von daher ist es wichtig, zu fragen, wie diese Werke eigentlich entstanden sind.

Das Einbeziehen von naturwissenschaftlichen Methoden klingt für mich wie ein großer Fortschritt für die Erforschung der Antike.

Es handelt sich auf jeden Fall um eine Herausforderung. Das hat sich erst in den letzten Jahren angebahnt und inzwischen kommen immer mehr Untersuchungen dazu. Mittlerweile besitzen wir hier einen Materialfundus, mit dem wir uns beschäftigen müssen. Das bedeutet, dass wir noch viel stärker interdisziplinär arbeiten und uns gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen aus den Naturwissenschaften Untersuchungsstrategien überlegen müssen, mit denen wir diese gewaltige Menge an Daten bearbeiten.

Welche Themen in der Alten Geschichte sind derzeit besonders wichtig? Wo tut sich am meisten?

Ich sehe tatsächlich die Spätantike als ein boomendes Forschungsfeld. Als ich selbst damit vor über 20 Jahren angefangen habe, bin ich von verschiedener Seite noch gewarnt worden. Mir wurde gesagt, ich solle mich vor allem in einer Qualifikationsschrift besser nicht damit befassen. Ich würde mich damit aus meinem Fach „herausschießen“. Alles nach Konstantin dem Großen, dem römischen Kaiser, der 337 n. Chr. starb, sei schon Mittelalter. Das hat sich mittlerweile aber geändert, da man nun einfach einen anderen Begriff von der Spätantike hat. In diesem Bereich tut sich derzeit unglaublich viel. Eben weil diese Phase bisher noch nicht so sehr bearbeitet wurde wie etwa die Römische Republik oder die griechische Klassik. Es gibt aber auch in anderen Bereichen der Alten Geschichte Themen, an denen derzeit viel geforscht wird, wie beispielsweise die Archaische Geschichte. Außerdem ist unter dem Schlagwort „Politische Kultur“ die Römischen Republik ein großes Thema. Und ich sehe, dass die frühe und hohe Kaiserzeit wieder stärker in den Fokus rückt, all dies zunehmend unter kulturwissenschaftlich geprägten Fragestellungen.

Wie wird denn die Spätantike inzwischen zeitlich eingegrenzt?

Genau das ist eine der Grundfragen, die immer wieder mal diskutiert werden. Nach meinem Verständnis handelt es sich bei der Spätantike um eine sehr lange Phase zwischen Antike und Mittelalter. Ich würde diesen Zeitraum auf das 3. Jahrhundert bis etwa 8. Jahrhundert n. Chr. eingrenzen. Aus konventioneller Sichtweise endet die Spätantike allerdings spätestens im 5. Jahrhundert. Aber es gibt inzwischen immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Theorie von der „Long Late Antiquity“ vertreten. Zu ihnen zähle ich mich auch. Früher hat man den Übergang gerne an bestimmten punktuellen Ereignissen wie der Völkerwanderung oder der Gründung Konstantinopels festgemacht. Heute sieht man aber relevante Entwicklungen, die über solche Ereignisse hinausgehen. Aus dieser Diskussion hat sich in den 1980ern und 1990ern ein großes EU-finanziertes Projekt, „The Transformation of the Roman World“, ergeben, das dazu beigetragen hat, dass man heute mehrheitlich das Konzept der „Long Late Antiquity“ vertritt.

Ich habe den Eindruck, dass die Antike allgemein inzwischen in der Öffentlichkeit viel präsenter ist als früher. Sehen Sie das auch so?

Diese Beobachtung mache ich auch, ja. Die Antike ist von der Breitenwirkung her gerade sehr präsent, etwa im Fernsehen, Kino, in Computerspielen oder historischen Romanen. Wie sichtbar sie in einer Region oder auch einer Stadt ist, hängt aber auch davon ab, wie gut die Alte Geschichte an den Standorten eingebunden ist oder ob sie eher ein Außenseiterdasein pflegt. Hier in Tübingen ist das Fach sehr gut eingebunden. Wir haben gute Verbindungen in die Nachbarfächer, die mit der Antike befasst sind, also beispielsweise der Klassischen Philologie, Archäologie und Kirchengeschichte. Wir sind aber auch innerhalb der Geschichtswissenschaft gut vernetzt mit den anderen Epochen. Die Situation für die Alte Geschichte und ihre Voraussetzungen, eine gute Außenwirkung zu entfalten, sind hier in Tübingen also aus meiner Sicht ideal. 

Das Interview führte Johannes Baral

Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträger 2022 Mischa Meier im Porträt

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Der Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ist der wichtigste Forschungsförderpreis in Deutschland. Ziel des Leibniz-Programms, das 1985 eingerichtet wurde, ist es, die Arbeitsbedingungen herausragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu verbessern, ihre Forschungsmöglichkeiten zu erweitern, sie von administrativem Arbeitsaufwand zu entlasten und ihnen die Beschäftigung besonders qualifizierter jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu erleichtern. Der Preis ist mit bis zu 2,5 Millionen Euro dotiert. Insgesamt 17 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen und der Tübinger Max-Planck-Institute wurden seit 1985 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet.