Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2010: Leute
Fördern durch Fordern
Zum Tode von Professor Dr. Hanna Weischedel ein Nachruf von Klaus-Detlef Müller
Kurz vor ihrem 89. Geburtstag verstarb am 22. Juni die Germanistin Professor Dr. Hanna Weischedel. Jahrzehntelang war sie eine prägende Gestalt des Deutschen Seminars, die noch viele Jahre nach ihrer Entpflichtung als Lehrende präsent blieb. Hochgeschätzt von ihren Studierenden und Kollegen, die sich auf ihren Rat, ihr kritisches Urteilsvermögen, ihre liebenswürdige Anteilnahme und ihr beispielloses Engagement immer verlassen konnten. In einer Zeit großer Umbrüche und Neuorientierungen hat sie das Profil des Deutschen Seminars entscheidend mitgeprägt.
Als Schülerin Paul Kluckhohns hat sie 1957 mit einer Arbeit über Hugo von Hofmannsthal promoviert, in der sie das Verhältnis von dichterischem und publizistischem Werk klärte und zu entscheidenden Einsichten in die Dichterphysiognomie der Moderne gelangte. Sie hat ihre Forschungen zu diesem Autor mit weiteren Publikationen, insbesondere mit einem vielbeachteten Hofmannsthal-Forschungsbericht in der Deutschen Vierteljahresschrift kontinuierlich fortgesetzt. Nach einigen Jahren im Schuldienst in Oberschwaben kehrte sie 1960 als Assistentin von Richard Brinkmann an das Deutsche Seminar zurück, wurde bald darauf zur Wissenschaftlichen Rätin und 1973 zur Professorin ernannt. Einen Ruf als ordentliche Professorin für deutsche Sprache und Literatur an der PH Wuppertal schlug sie 1967 aus, um in der kritischen Zeit, als die Germanistik zum Massenfach wurde, die entsagungsvolle Aufgabe einer Neuorganisation des Studiums, insbesondere des Grundstudiums, zu übernehmen. Ihr Einfallsreichtum, ihr kritisches Engagement, ihr Organisationstalent und ihr bedingungsloser Einsatz trugen entscheidend dazu bei, dass in der schwierigen Zeit der verordneten Überlast und des berechtigten Unmuts der Studierenden vertretbare Studienbedingungen gewahrt blieben.
Lange bevor die Forderung nach einem verstärkten Engagement der Professoren in der Lehre sich Gehör zu verschaffen begann, hat Hanna Weischedel hier den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit gesehen. Sie hat sich von Anfang an für das Recht der Studierenden auf eine qualifizierte Ausbildung eingesetzt. In ihren hoch geschätzten Lehrveranstaltungen folgte sie der Devise, durch Fordern zu fördern, sich kritisch am Stand der Wissenschaft zu orientieren und zugleich geduldig und zeitaufwendig auch denjenigen zum Erfolg zu verhelfen, die sich in der wachsenden Anonymität des Massenbetriebs zu verlieren drohten. Ein dankbarer Schülerkreis erinnert sich an eine strenge und kritische Lehrende, die auf wundersame Weise stets Zeit für individuelle Beratung und persönliches Gespräch fand und es verstand, ein Engagement für die Sache zu vermitteln und wachzuhalten. Noch lange nach ihrer Entpflichtung hat sie ein anregendes Oberseminar mit hochbegabten Studierenden, die heute zum Teil die Fachdiskussion mitbestimmen, im häuslichen Kreis durchgeführt.
Mit ihrem Sachverstand, ihrem klaren Urteil , ihrem Sinn für das Notwendige und das Machbare und ihrer Bereitschaft, unangenehme und arbeitsaufwendige Aufgaben selbst zu übernehmen, war sie ein geschätztes Mitglied vieler universitärer und außeruniversitärer Kommissionen und Gremien und wurde folgerichtig in verantwortungsvolle Ämter gewählt. Sie war Direktorin des Deutschen Seminars und Dekanin der Neuphilologischen Fakultät, bevor Präsident Adolf Theis sie 1978 zur Vizepräsidentin der Universität berief. Indem sie die Nachfolge von Ilse Kunert antrat, war die Tradition begründet, dass einer der Vizepräsidenten bzw. Prorektoren aus der anfangs noch sehr kleinen Gruppe der weiblichen Professoren gewählt wurde. Sie erhielt die Zuständigkeit für die Probleme des Lehramtsstudiums und hat durch Umsicht, Pragmatismus, Einsatz und Loyalität hohes Ansehen gewonnen und vieles bewegt.
Studierenden und Kollegen im und außerhalb des Faches bleibt sie als eine starke, liebenswürdige, stets hilfsbereite und viel zu bescheidene Persönlichkeit in bester Erinnerung.
Professor Dr. Klaus-Detlef Müller