Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2012: Leute

Sozialwissenschaftliche Ansätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Zum Tod von Professor Dr. Reinhart Lempp ein Nachruf von Michael Günter

Professor Dr. Reinhart Lempp, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Tübingen, wurde am 21. Oktober 1923 in Esslingen geboren. Sein Vater, Professor Dr. Rudolf Lempp, war ein bekannter Stuttgarter Architekt. Im Zweiten Weltkrieg schwer verletzt, studierte Reinhart Lempp trotz des Verlustes eines Armes erfolgreich Medizin und schloss seine Weiterbildung in Psychiatrie 1957 bei Professor Dr. Ernst Kretschmer ab. Er baute aus der Kinderstation der damaligen Tübinger Nervenklinik die hiesige Kinder- und Jugendpsychiatrie auf, wurde 1966 Ärztlicher Direktor der nunmehr selbständigen Abteilung und 1971 Inhaber des dazugehörigen, neu geschaffenen Lehrstuhls, der einer der ersten dieser Fachrichtung in Deutschland war.


Reinhart Lempp gestaltete über mehrere Jahrzehnte hinweg maßgeblich die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie mit. Er genoss hohe fachliche Anerkennung. Seine liberale Grundhaltung und sein Einsatz für die Rechte von Kindern ließen ihn Kontroversen nicht scheuen. Er erhielt zahlreiche Ehrungen, unter anderem die Ehrenmitgliedschaft in verschiedenen Verbänden, die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und das Ehrendoktorat der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg.

Seine menschliche Wärme zeichnete ihn aus. Sie war getragen von einem von ihm selbst immer wieder formulierten Vertrauen in die Fähigkeiten von Menschen, in das Gute in ihnen und in ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Diese Zuversicht war gepaart mit der unbedingten Überzeugung, dass man die Bedingungen dafür schaffen müsse.


Diese Grundhaltung durchzog viele seiner wissenschaftlichen Arbeiten, deren Ergebnisse er erfolgreich und verständlich in der Öffentlichkeit vermitteln konnte. So hatte er maßgeblichen Anteil an der Reform des Kindschaftsrechts in den 1970er-Jahren und der daraus folgenden Stärkung der Rechte des Kindes. Grundlegend waren auch seine Arbeiten zur forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, in denen er vehement für einen an Entwicklung, Erziehung und (Re)sozialisierung orientierten Umgang mit jugendlichen Gewaltstraftätern eintrat. Seine Überzeugung einer gesellschaftlichen Verantwortung verbunden mit der Ablehnung jedweder autoritärer Strukturen führte Reinhart Lempp als einen der wenigen Ärzte seiner Generation dazu, frühzeitig die psychischen Folgen des Holocaust und der Naziverfolgung von Kindern zu untersuchen.


Sein Glaube an die Fähigkeiten der Mitarbeiter und daran, dass die besten Ergebnisse dann entstehen, wenn es gelingt, in der Sache zu überzeugen, ließ ihn auch in der Führung der Klinik neue Wege gehen. Jede professorale Attitude, gar gepaart mit autoritärem Gehabe, war ihm ein Gräuel. Reinhart Lempp verstand es, in einer unnachahmlichen Mischung aus Vertrauensvorschuss und der Vermittlung des Gefühls von Sicherheit, dass er auch in schwierigen Situationen hinter seinen Mitarbeitern stehen werde, hohes Engagement und Verantwortung bei den Mitarbeitern zu erzeugen. Auch in dieser Hinsicht war Reinhart Lempp seiner Zeit voraus: heute würde man dies einen „kooperativen Führungsstil“ nennen, damals wurde er für diese persönliche Prägung, die er der Klinik gab, heftig angegriffen.


Seine Orientierung an der Sache und seine Offenheit für die Komplexität des menschlichen Lebens machte es ihm leicht, interdisziplinär zu denken und zu arbeiten. Sein Wirken war wegweisend für eine Zusammenarbeit an der Universität und weit darüber hinaus: Pädagogen, Sozialpädagogen, Juristen, Kriminologen und Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen waren seine Gesprächspartner in Klinik, Forschung und Lehre. Seine Öffnung des Faches in Richtung sozialwissenschaftlicher Ansätze ist heute noch mit verantwortlich für die anerkannt gute Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe in Südwestdeutschland.


Reinhart Lempp war bis zuletzt voller Schaffenskraft – wissenschaftlich und in der Vermittlung seiner Überzeugungen in die Öffentlichkeit. Wir verlieren mit ihm einen außergewöhnlichen Hochschullehrer, einen engagierten Wissenschaftler, dem die menschlichen Beziehungen das Wichtigste waren und einen Menschen, dem viele – auch ich – in großem Respekt und Freundschaft tief verbunden sind. Wir fühlen mit der Familie und wissen, welch großer Verlust sein Tod bedeutet. Reinhart Lempp verstarb unerwartet am 20. Februar 2012 im Alter von 88 Jahren in seiner Heimatstadt Stuttgart.