Wie lässt sich Lehre in Zeiten der Pandemie praktisch von zu Hause aus organisieren und gestalten, wenn sämtliche Hörsäle und Bibliotheken geschlossen sind? Dafür haben die Dozentinnen und Dozenten an der Universität Tübingen in kürzester Zeit neue Formate entwickelt und digitale Lehrprogramme auf die Beine gestellt. Einiges davon wird sich nachhaltig auch noch über die Corona-Krise hinaus als neues Lehrformat etablieren. Annabel Kempf hat Lehrende verschiedener Fächer dazu interviewt. In einem Punkt sind sich alle Befragten einig: Nicht zu ersetzen durch digitale Formate ist der persönliche Austausch untereinander.
Juniorprofessorin Dr. Christiane Zarfl, die Informatik-Vorkurse für Geowissenschaftler unterrichtet, musste sich binnen kürzester Zeit komplett umstellen. Zarfl wurde zwar unterstützt von der Hochschuldidaktik, dem Zentrum für Datenverarbeitung sowie von der EDV-Abteilung der Geowissenschaft. Dennoch mussten sich alle Beteiligten erstmal an den Umgang mit dem Videokonferenz-Tool Webex gewöhnen, welches kurzfristig eingerichtet wurde. „Ich halte es für sinnvoll, wenn alle ein und dieselbe Plattform nutzen“, so Zarfl.
„Vorlesungen eins zu eins ins Onlineformat zu übertragen erachte ich für die Studierenden als sehr anstrengend, um Informationen aufzunehmen. An dieser Stelle müssen andere Mittel herangezogen werden“, betont Zarfl. Sie arbeitet derzeit mit ihren Kollegen an Videoformaten, die für Studierende leichter und flexibler zugänglich sein sollen. Sprechstunden veranstaltet Zarfl nach wie vor – jedoch digital per Videokonferenz. „Komplett habe ich eine Veranstaltung so noch nicht online gemacht“, sagt Zarfl, die mit der Umsetzung dennoch sehr zufrieden ist. Um etwaige Netzüberlastungen zu vermeiden, wurde in den Videokonferenzen nur die Bildübertragung von Zarfl aktiviert, die Studierenden blieben zwar mit eingeschaltetem Mikrofon, aber ohne Bildübertragung dabei. Nach wie vor bevorzugt Zarfl jedoch den direkten Kontakt zu den Studierenden.
Die Abteilung für Koreanistik stand ebenfalls vor einigen Hürden bei der Digitalisierung ihres Sprachprogramms. Um die geeignetste Methode für die Umsetzung zu finden, haben sich die Dozierenden unter anderem von Sprachlektorinnen und Sprachlektoren aus Korea beraten lassen. Diese mussten bereits einige Wochen zuvor aufgrund der Corona-Krise lernen online zu unterrichten. Während für Präsenzsitzungen nun ausweichend auf Zoom-Konferenzen umgestiegen wird, versorgt die Tübinger Koreanistik ihre Studierenden zusätzlich noch mit Lehrmaterial auf einem weiterem Wege: postalisch. Euna Kim, Sprachlektorin für Koreanisch, sagt dazu: „Dozierende anderer Länder, die bereits mehr Erfahrung mit dem Sprachunterricht per Videokonferenz gemacht haben, waren der Meinung, dass dies gut funktioniere und es die bessere Methode für ein effektives Lernen sei.“
Schwierigkeiten gibt es aktuell dennoch: „Da nicht erwartet werden kann, dass alle Studierenden eine perfekte Internetverbindung haben, rechnen wir damit, dass unser Vorhaben deswegen und auch aufgrund anderer externer Faktoren nicht perfekt umgesetzt werden kann“, so Kim. Auch für sie und ihre Kollegen ist der Umstieg auf den digitalen Unterricht noch ungewohnt und schwierig. „Wir hoffen sehr, dass sich die Situation vor Ende der Vorlesungszeit etwas normalisiert“, sagt Kim.
Entspannter hingegen geht Professor Bernhard Hirt, Direktor des Instituts für Klinische Anatomie, mit der aktuellen Lage um. Das von ihm 2008 ins Leben gerufene Projekt „Sectio chirurgica“, in dem realitätsnahe Live-OPs an Körperspendern durchgeführt und per Livestream im Netz übertragen werden, macht ihn zu einer Art Pionier auf dem Gebiet der digitalen Lehre.
Doch ganz ohne Hindernisse geht es auch bei Hirt in der neuen Situation nicht: „Über eine besondere Expertise verfügen wir beim Livestreaming, wir merken aber jetzt selber wie alle anderen, dass wir lernen müssen, mit innovativen Formen der Distanzlehre umzugehen. Die Tatsache, dass wir Unterricht in der Livesituation synchron hinbekommen haben, bedeutet nicht, dass wir die digitale Lehre, die auf Distanz basiert und asynchron ist, schon begriffen haben“, sagt Hirt. Derzeit versuchen er und sein Team, die gesamte Plattform umzustrukturieren und für alle Lehrformen nutzbar zu machen. Das bedeutet konkret, dass die Medizinische Fakultät an einem eigenen Fernsehkanal arbeitet, der über die aktuellen Themen aus den Kliniken und Studiengängen berichten soll. „Dazu gibt es eine Mediathek, die gut für das asynchrone Lernen ist. Dort können wir Filme ablegen, die zu jeder Zeit abgerufen werden können“, erzählt er.
Besonders begeistert ist Hirt von dem Engagement seiner Kollegen und der Zusammenarbeit untereinander: „Wir bieten nun auch an, dass unser Personal oder Studierende zu uns kommen können, um ihre Lehreinheit aufzuzeichnen. Mobile Kamerateams werden in die Kliniken und Hörsäle geschickt, dies erfolgt unentgeltlich und ist in der aktuellen Situation eine besondere Leistung, der große Anerkennung gebührt“, sagt Hirt. Er sieht den plötzlichen und sich sehr kurzfristig vollzogenen Wechsel auf digitale Formate als eine Chance: „Jetzt ist es wichtig, den nächsten Schritt zu planen. Zum Beispiel das nachhaltige Gestalten der digitalen Lehre. Unsere Aufgabe ist es, diesen Schwung, der nun reinkommt, zu nutzen und konkrete Ansätze verfolgen zu können. Das Ziel muss sein, nicht nur Vorlesungen einfach digital abzuhalten, sondern als eigenständige Form des Lernen zu etablieren.“
Wenig Berührungsängste mit dem Einsatz neuer Medien hat Philipp Hennig, Professor für Methoden des Maschinellen Lernens. Er machte sämtliche Vorlesungen per Videoaufzeichnung für Studierende auf YouTube zugänglich. Dennoch begrüßt er diese Umstellung nicht uneingeschränkt: „Es mag eine unterwartete Aussage aus dem Munde eines Informatikers sein, aber ich halte das kommende virtuelle Semester für einen äußerst tragischen, wenn auch wohl leider unumgänglichen Verlust“, sagt er. Während manch einer die digitale Lehre als Notwendigkeit der universitären Entwicklung in der Zukunft erachtet, sieht Hennig die Digitalisierung als eine Art Notlösung, die nicht länger als zwingend nötig genutzt werden sollte. Besonders dankbar ist Hennig dem ZDV, welches in den letzten Wochen beim Aufbau von digitalen Plattformen „Außergewöhnliches geleistet hat“.
Den Umstieg auf digitale Lehrangebote ist für Michael Menth, Professor für Kommunikationsnetze im Fachbereich Informatik, gelungen: Er führte kurzfristig zwei Workshops in einem neuen Online-Format durch, die noch drei Wochen vorher als Präsenzveranstaltung geplant waren. Erschwert wurde die Organisation der Workshops durch kurzfristige krankheitsbedingte Ausfälle im Team sowie durch die Beschränkungen des Shutdowns. „Das war im Vorfeld stressig, dennoch hat die Durchführung sehr gut funktioniert“, sagt Menth. Das Experiment hat für ihn gezeigt, dass der wissenschaftliche Austausch auch online sehr gut funktionieren kann, jedoch den persönlichen Kontakt unter Wissenschaftlern nicht ersetzt. Für ihn besteht die Hoffnung, dass aus der Corona-Krise gelernt werden kann, in Zukunft manche Dienstreisen durch virtuelle Treffen zu ersetzen. Als größte Hürde auf dem Weg zum erfolgreichen Online-Workshop erwies sich der Faktor Mensch: „Viele Menschen haben noch Hemmungen, aus der Anonymität des Cyberspace hervorzutreten. Es kostet Überwindung, sein eigenes Video aus dem Homeoffice im Rahmen eines Workshops zu zeigen“, sagt Menth. Seine Teilnehmeranzahl für den digitalen Workshop habe sich zudem im Vergleich zu Präsenzveranstaltungen nahezu verdoppelt: „Im Ergebnis konnte man den Vorträgen im Homeoffice teilweise sogar besser folgen als in einem akustisch schwierigen Konferenzraum.“ Durch das viele positive Feedback sieht sich Menth bestätigt, dass es richtig war, das Experiment mit einem neuen Workshop-Format digital umzusetzen.
Annabel Kempf