Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2022: Leute

Ein kluger Lotse der Mathematik in guten und in schwierigen Zeiten

Zum Tode von Professor Helmut Reiner Salzmann ein Nachruf von Rainer Löwen

Am 8. März 2022 verstarb Professor Dr. Helmut Reiner Salzmann im Alter von 91 Jahren. Von 1967 bis 1998 hatte er einen mathematischen Lehrstuhl an der Universität Tübingen inne, zunächst mit der schlichten Bezeichnung "Mathematik I", später umbenannt in "Geometrie und Topologie".  Allerdings hat er sich nie als Vertreter einer speziellen Fachrichtung gesehen, sondern dezidiert als Vertreter der Mathematik insgesamt. Er hatte dementsprechend stets umfassend das Wohl der Mathematik an der Universität Tübingen im Blick und hat große Verdienste an ihrer Entfaltung und ihrer Erhaltung auch in schwierigen Zeiten. In der Forschung hat er, fast aus dem Nichts, ein eigenes Arbeitsgebiet geschaffen, die Topologische Geometrie, und es zusammen mit seinen zahlreichen Schülern zu einer sehr ansehnlichen Blüte geführt. 

Zu seinen akademischen Lehrern zählten mit Hellmuth Kneser und Erich Kamke zwei der berühmten drei K's in Tübingen. Kamke bewunderte er nicht zuletzt wegen dessen Standfestigkeit gegenüber dem Naziterror, und er betrachtete es später als besondere Ehre, dass er dessen Lehrstuhl innehatte. Nach der Promotion bei Günther Pickert in Tübingen schloss er sich Reinhold Baer in Frankfurt an, dem er als erstes bei der Rückkehr aus der Emigration beistand. Baers sehr produktive und umfangreiche Schule prägte ihn und blieb ihm sein Leben lang ein Leitbild, dem er sehr erfolgreich nacheiferte. Dass ihm dies so gut gelungen ist wie weiter unten geschildert, hat ihn mit berechtigtem Stolz erfüllt. Dem Ruf nach Tübingen folgte 1974 ein Ruf zurück nach Frankfurt. Zum Glück für Tübingen und für seine Tübinger Schüler lehnte er ab.

Salzmanns erste Jahre in Tübingen fielen in eine Zeit großer Unruhe an den Hochschulen. Darauf folgte eine Phase starker Expansion, sowohl personell als auch räumlich, die dann wiederum durch Stellenstreichungen und Verlust von Räumen abgelöst wurde. In allen diesen Zeiten hat Salzmann sich mit ganzer Energie für die Belange der Mathematik eingesetzt. Er hat mehrfach das Dekanat übernommen und, nicht nur in diesen Amtszeiten, sondern immer durch seine Kunst der Vermittlung und des Ausgleichs Konflikte im Kleinen wie im Großen zu entschärfen gewusst.  Geduld und Beharrlichkeit waren die Tugenden, denen er immer wieder Erfolge verdankte.

David Hilbert hat mit seinen Grundlagen der Geometrie erstmals eine vollständige axiomatische Beschreibung der "klassischen" Euklidischen Geometrie gegeben und dabei auch Stetigkeitseigenschaften postuliert. Um die Unabhängigkeit der Axiome zu demonstrieren, konstruierte er Geometrien, die sich von der klassischen in nur einer der grundlegenden Eigenschaften unterscheiden. Es dauerte ein halbes Jahrhundert, ehe jemand auf den Gedanken kam, nun systematisch nach derartigen "gemäßigt exotischen" stetigen Geometrien zu fahnden und diejenigen unter ihnen, die sich durch viel Symmetrie auszeichnen, sämtlich herauszufiltern, explizit zu konstruieren und zu kennzeichnen. In der Zwischenzeit hatten die Topologie und die (Lie-)Gruppentheorie ihr Methodenarsenal so weit entwickelt, dass ein derartig ambitioniertes Programm denkbar wurde. Salzmann verschrieb sich diesem Ziel mit Leib und Seele. Unterstützt wurde er dabei von seinem engen Freund James Dugundji in Los Angeles und von seinen zahlreichen Schülern. Auch wenn gelegentlich die Schüler entscheidende Durchbrüche beitragen konnten, so blieb doch bis zuletzt er derjenige, der mit unermüdlicher Energie das Programm vorantrieb und dabei vor keiner noch so großen Anstrengung zurückschreckte. Auch nachdem 1995 gemeinsam mit fünf der Schüler in jahrelanger Arbeit eine große Monographie fertiggestellt war, ließ er nicht locker und ergänzte die Ergebnisse immer weiter. Erst seine fortschreitende Erblindung zwang ihn zuletzt, davon abzulassen.

Helmut Salzmann wirkte auf den ersten Blick zurückhaltend, aber wer sich mit einem Anliegen an ihn wandte, wurde mit größter Freundlichkeit und Fürsorge empfangen. Aus einer kleinen Frage zur Vorlesung wurde so schnell eine Examensarbeit, und man war in den eng verflochtenen Kreis der immer zahlreichen Schüler aufgenommen. Man wurde regelmäßig von ihm zum Tee eingeladen (Kaffee gab es für ihn nicht), durfte ihm seine Fortschritte berichten und bekam Rat, wenn diese einmal ausblieben. Spätestens ab der Promotion gehörte zu diesen Gesprächen immer auch, dass er über seine eigenen neuesten Erkenntnisse berichtete. Die Gespräche konnten sehr lang werden und erstreckten sich auf alle Gebiete, die ihn interessierten, vor allem Literatur (besonders Thomas Mann, Tolstoi, Tolkien und Saki, auch Schopenhauer liebte er; er las gerne das Original, auch bei russischen Autoren), ferner Volkswirtschaft, Politik und Geschichte. Er hatte einen reichen Schatz von Anekdoten aus seinem Leben und über Mathematiker, denen er begegnet war. Seine Schüler nannten Salzmann untereinander den "Boss" und drückten damit liebevoll aus, dass er das genaue Gegenteil war: ein Gesprächspartner, ein unverbrüchlicher Freund, ein Beistand in allen Lagen. Die Schule war sehr fruchtbar, und mehr als die Hälfte seiner Doktoranden erlangten Professuren. 

Was von Helmut Salzmann neben seinem scharfen Verstand am stärksten in Erinnerung bleibt, ist seine Freundlichkeit und seine menschliche Integrität.