Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2024: Forschung
„Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“
Professor Olaf Kramer, Leiter des neuen Forschungszentrums für Wissenschaftskommunikation, über die Bedeutung von Bildern, neuen Medien und Konflikten für die Kommunikation von Forschung.
Wieso braucht es Wissenschaftskommuniktion? Reicht es nicht, wenn Forschende ihre Ergebnisse unter ihresgleichen diskutieren?
Wir sollten in einer Gesellschaft informierte Debatten führen. Wenn wir Konflikte verhandeln oder Entscheidungen über unsere Zukunft treffen, sollten wir möglichst viel Rationalität in diese Debatten bringen. Das leistet Wissenschaftskommunikation. Sie führt dazu, dass politische Debatten nicht nur Interessen geleitet sind, sondern Fakten bezogen geführt werden. Das gilt für Debatten in Parlamenten wie für private Gespräche.
Wissenschaftskommunikation wird in Drittmittelanträgen heute standardmäßig eingefordert. Wieso diese Forderung der Geldgeber?
Forschung wirkt immer stärker in die Gesellschaft hinein. Die Gentechnik kann unser Leben und unsere Gesellschaft verändern, gleiches gilt für die Klimaforschung. Künstliche Intelligenz beeinflusst unsere Arbeitswelt und die politische Meinungsbildung. Insofern ist es wichtig, über diese Wirkungen von Wissenschaft auf die Gesellschaft nachzudenken. Gleichzeitig wird die Wissenschaft selbst immer komplexer und ihr Output größer und unübersichtlicher. Die Zahl wissenschaftlicher Publikationen pro Jahr steigt rasant, auf mittlerweile über fünf Millionen Veröffentlichung weltweit. Wissenschaftskommunikation muss Orientierung bieten in Anbetracht dieses riesigen information overload, der sich über die Welt ergießt.
Wie verändern neue Medien und Formate die Wissenschaftskommunikation?
Wissenschaftskommunikation über Instagram funktioniert natürlich nach anderen Regeln als über das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bilder und Videos, Emotionen und Personalisierung werden wichtiger: Wer spricht da eigentlich zu mir? Wirkt der Absender authentisch? Zugleich verändert sich das Selbstverständnis von Wissenschaftskommunikation und die Wertvorstellungen, die hinter ihr stehen.
Inwiefern?
Wir entfernen uns von einem Modell, bei dem diejenigen, die über Wissen verfügen, ihr Wissen einfach in die Gesellschaft hineindrücken – hin zu einem Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Auf der einen Seite gibt es wissenschaftliche Positionen, auf der anderen Seite berechtigte Interessen und einen öffentlichen Diskurs. Zwischen beiden Seiten muss sich ein Ausgleich vollziehen. Wissenschaftskommunikation kann hier moderieren und wirkt in beide Richtungen. Also auch von der Gesellschaft in die Wissenschaft hinein.
Wie sehr hat die Corona-Zeit und die Kritik an der Rolle von Wissenschaft während der Pandemie diese Entwicklung beeinflusst?
Die Corona-Krise hat der Wissenschaftskommunikation einen großen Schub gegeben. In dieser Zeit hat die Politik bei der Wissenschaft Orientierung gesucht. Und die Forschung und daraus abgeleitete Strategien zur Pandemiebekämpfung hatten gravierende Folgen für die Gesellschaft. Dadurch wurde auch klar, dass diese Orientierung an wissenschaftlichem Wissen für Menschen eine Herausforderung sein kann. Denn Wissenschaft entwickelt sich laufend fort. Das kann Menschen irritieren: mal wurde das eine, mal das andere empfohlen – und beide Empfehlungen ließen sich im jeweiligen Moment wissenschaftlich begründen. Schulkinder wurden anfangs als unkritisch für das Pandemiegeschehen betrachtet, dann stellte sich heraus, dass die Viruslast bei einer Infektion in ihren Rachen ähnlich hoch ist wie bei Erwachsenen. Inzwischen wiederum untersucht man, ob die Schulschließungen in der Pandemie gut waren. Wissenschaftliche Erkenntnisse entwickeln sich eben dynamisch fort.
Durch den Streit um Impfungen haben sich verhärtete politische Lager entwickelt. Wie ist das zu erklären?
Das passiert, wenn wissenschaftliche und politische Streitfragen zu Identitätsfragen werden. Die Gruppe der Corona-Leugner war nicht mehr für Argumente aus der Wissenschaft empfänglich und empfand ihrerseits, dass Menschen, die den Empfehlungen der Wissenschaft gefolgt sind, nicht mehr ihre Interessen vernünftig wahrten. Selbst Verschwörungstheorien verbreiteten sich. Wissenschaftskommunikation muss sich also fragen: Wie kann in so einer polarisierten Situation in einen rationalen Diskurs hineingefunden werden? Dazu ist eine Kommunikation nötig, die in der Lage ist Brücken zu bauen und viele Perspektiven zuzulassen. Wir sprechen von einer invitaional oder bridging rhetoric.
Welche Schwerpunkte hat das Forschungszentrum für Wissenschaftskommunikation?
Die Tübinger Rhetorik hat früh das Thema Präsentation und Visualisierung in der Wissenschaftskommunikation stark gemacht über Projekte wie „Jugend präsentiert“ oder den „Science Notes“, einer Reihe von Live-Präsentationen in Kinos oder Clubs, ja sogar mit OpenAir-Events. Forschende tragen dort Wissenschaft in öffentliche Räume und treten in direkten Kontakt mit den Menschen. In den neuen Sozialen Medien spielen Bilder, Videos und Grafiken eine große Rolle, nicht nur Worte und Text. Wie kann also dieser visuelle Input so gestaltet werden, dass er als attraktiv wahrgenommen wird und dennoch komplexe wissenschaftliche Erkenntnis abbildet? Zur Erforschung und Anwendung dieser Thematik haben wir das Projekt „Knowledge Design“ entwickelt. Ein wichtiger Schwerpunkt des Forschungszentrums Wissenschaftskommunikation ist außerdem die Frage, wie auf gesellschaftliche Polarisierung kommunikativ reagiert werden kann: Wie lässt sich ein gesellschaftlicher Konsens sichern? Wie gehen wir produktiv mit Konflikten um? Ein weiterer Schwerpunkt ist die Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz: Wie lässt sie sich erklären und wie wirkt wiederum der öffentliche Diskurs auf die KI-Forschung? Außerdem bieten wir Forschenden der Universität Tübingen Trainings zur Erweiterung ihrer kommunikativen Kompetenz über unser Zertifikatsprogramm Wissenschaftskommunikation.
Ein Zentrum an einer Universität führt Institutionen und Forschende zusammen, die bereits an unterschiedlichen Stellen zu einem gemeinsamen Thema arbeiten. Wer gehört neben Ihrem Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik noch zum Forschungszentrum Wissenschaftskommunikation?
Für die empirischen Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ist die Kompetenzentwicklung ein großes Thema, beispielsweise im globalen Netzwerk LEAD von Ulrich Trautwein. Bei den Sozialwissenschaften ist der Politologe Thomas Dietz ein wichtiger Partner, denn Wissenschaftskommunikation hat auch eine politische Dimension. Und natürlich bringen einige Medienwissenschaftler wie Susanne Marshall ihre Expertise über den Wandel der Medien ein. Auch die Kommunikation naturwissenschaftlicher Themen wird von uns beforscht, dafür haben wir eine Kooperation mit Markus Löffler aus der medizinischen Fakultät. In der Mathematik engagiert sich besonders Carla Cederbaum für die Wissenschaftskommunikation.
Wo sehen Sie Entwicklungspotenzial für das Forschungszentrum?
Das Zentrum lebt im Moment durch einzelne große Forschungsprojekte und es wäre wünschenswert, dass sich die Universität noch stärker beteiligt. Nach dem Zertifikatsprogramm Wissenschaftskommunikation gibt es eine so hohe Nachfrage, dass wir sie nicht decken können. Zusätzliche Strukturen könnten das Thema Wissenschaftskommunikation konsequenter auf unterschiedlichen Ebenen in die Uni bringen. Im Moment haben wir einen Fokus auf Doktoranden und Postdocs. Es läge eine Chance darin, noch mehr Wissenschaftskommunikation in die Arbeit auch der Professorinnen und Professoren einerseits und in die Ausbildung der Studierenden andererseits zu bringen. Absolventinnen und Absolventen schwärmen in die Gesellschaft aus. Wenn sie dort gut erklären können, was sie über Wissenschaft gelernt haben, ist das ein wichtiger Kanal der Wissenschaftskommunikation.
Das Interview führte Tilman Wörtz