Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2020: Leute

Ein großer Philologe und Euripides-Kenner

Zum Tode von Prof. Dr. Richard Kannicht ein Nachruf von Irmgard Männlein-Robert

Am 21. Juni 2020 verstarb Professor Dr. Richard Kannicht im Alter von 88 Jahren. Er war ein international anerkannter und allseits geschätzter Experte für die griechische Dichtung, der er sich mit Blick auf die philologische Textkritik, die komplexen Formen der antiken Metrik sowie literaturwissenschaftliche und rezeptionsästhetische Fragestellungen in Forschung und Lehre intensiv widmete. 

Der am 5. Oktober 1931 als Pfarrersohn in der Altmark geborene Richard Kannicht studierte zuerst Klassische Philologie an der FU Berlin, dann Klassische Philologie und Anglistik in Heidelberg, wo er 1956 (1. Staatsexamen) examiniert wurde. Von 1957-1959 war er im Schuldienst am Hamburger Gymnasium Johanneum tätig. In dieser Zeit wurde er (1957) bei Otto Regenbogen (Heidelberg) mit Untersuchungen zu Form und Funktion des Amoibaion in der attischen Tragödie promoviert und legte das 2. Staatsexamen dort ab. In den Jahren 1960-1965 war er wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Griechische Philologie bei Ernst Siegmann am Seminar für Klassische Philologie an der Universität Würzburg, wo er 1965 mit einem bis heute vielzitierten und bedeutenden Kommentar zu Euripides Tragödie Helena habilitiert wurde und bis 1969 als Universitätsdozent wirkte. 1969 folgte Richard Kannicht dem Ruf auf den Lehrstuhl für Griechische Philologie I an der Universität Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1997 wirkte. Sein engagiertes Wirken als Dekan in den Jahren 1971/2 für den damaligen Fachbereich Altertums- und Kulturwissenschaften, sein jahrelanges großes Engagement im damaligen Verwaltungsrat der Universität Tübingen, sein Einsatz als erster Vorsitzender der Mommsen-Gesellschaft (1976-1978) sowie sein internationales Renommee drücken sich nicht von ungefähr in wiederholten Visiting Professorships, etwa (1979) an der University of California Los Angeles oder (1986) an der University of Canterbury Christchurch New Zealand, aus. 1992 wurde er als ordentliches Mitglied in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften aufgenommen, 1993 zum Corresponding Fellow der British Academy ernannt und 1996 zum Korrespondierenden Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts gewählt. Kennzeichnend für sein wissenschaftliches Arbeiten war methodenstrenge, technisch brillante und von hohem Ernst getragene philologische Detailarbeit; wie wenige andere hat er es dabei auch verstanden, die Funktion des philologischen Details im Rahmen einer literarischen Interpretation des Textes nicht nur für Kollegen mit gleicher Gelehrsamkeit, sondern auch für Studierende erlebbar zu machen. Bereits sein großer Kommentar der euripideischen Helena war ausdrücklich nicht nur für die gelehrte Welt bestimmt, sondern auch als Modellkommentar zum Selbststudium für angehende Philologen. 

In der Wissenschaft sind seine philologisch fundierten, ebenso gründlich wie nüchtern konzipierten Buchpublikationen, Editionen, Kommentare und Übersetzungen bis heute äußerst wertvolle und gehaltvolle Forschungsbeiträge und Instrumente der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten der griechischen Poesie, vor allem mit den griechischen Tragikern. Richard Kannicht setzte die von Bruno Snell begonnene Neuausgabe der Tragicorum Graecorum Fragmenta (TrGF Bände 1 und 2) fort, so dass dieses philologisch bedeutsame Unternehmen durch ihn eng mit Tübingen verbunden war. Besonders lag ihm der attische Tragiker Euripides am Herzen. Der philologischen Aufarbeitung der überlieferten Fragmente und Testimonien der Tragödien und dramatischen Stücke des Euripides widmete er seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts einen großen Teil seiner Arbeitszeit. Im Rahmen der Tragicorum Graecorum Fragmenta publiziert er in zwei Teilbänden sämtliche erhaltenen Euripides-Fragmente (TrGF Band 5, 1 und 5,2; 2004), die mit Recht als philologisch vorbildliches Monument und sicher auch als κτῆμα ἐς αἰεί, als „bleibender Besitz“, der gräzistischen Forschungsliteratur bezeichnet werden dürfen. 

Dass es Richard Kannicht immer wichtig war, die Texte und Fragmente der griechischen attischen Tragiker für ein breiteres interessiertes Publikum zu erschließen, bezeugen seine seit 40 Jahren im Buchhandel unverändert präsente gelungene Überarbeitung der Euripides-Übersetzung der Tragödien des Euripides von Johann Jakob Christian Donner (aus dem Jahr 1843) sowie das integrative Projekt der Musa Tragica, wo unter seiner Ägide eine hochkaratige Arbeitsgruppe von Studierenden, Doktoranden und jüngeren Tübinger und internationalen Wissenschaftlern eine zweisprachige kommentierte Ausgabe der Fragmente derjenigen griechischen Tragiker erarbeitete, die vor, neben und nach den bekannten Autoren Aischylos, Sophokles und Euripides gewirkt hatten. In intensiven Arbeitstreffen in Tübingen oder im Berghaus Iseler am Oberjoch entstand so unter Richard Kannichts fachkundiger und kooperativer Führung ein wichtiges und wegweisendes Arbeitsinstrument für die künftige Erschließung der überlieferten Fragmente der griechischen Tragödie, das den wissenschaftlichen Horizont in diesem Gebiet beträchtlich erweitert hat. 

Es ging Richard Kannicht aber nicht nur und nicht ausschließlich um große griechische Texte wegen deren historischen, kulturellen oder ästhetischen Wertes, es ging ihm immer auch um die Bedeutung derselben für die Menschen der Gegenwart. Ihm lag das in diesen Texten enthaltene, zeitunabhängig-aufklärerische und selbstverwandelnde Potenzial für jede Generation am Herzen, wie er in seiner berühmt gewordenen Tübinger Antrittsrede von 1970 mit dem Titel Philologia perennis? programmatisch und eindrucksvoll vorführte: Energisch formulierte er dort „daß wir Philologie entschieden nicht um ihret-, sondern um unsertwillen betreiben“ (ebd. S. 374). Kannicht wandte bereits zum damaligen Zeitpunkt die Gadamer‘sche philosophische Hermeneutik gewinnbringend auf die klassischen griechischen Texte an und schrieb sich damit methodisch und wegweisend in die allgemeine Literaturwissenschaft ein. 

Doch nicht nur seine Buchpublikationen, sondern auch viele seiner kleineren Schriften, wie etwa die zum Verhältnis von Dichtung und Bildkunst. Die Rezeption der Troia-Epik in den frühgriechischen Sagenbildern (1977) oder Der alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung. Grundzüge der griechischen Literaturauffassung (1980) oder zur Griechischen Metrik (1997) sind längst Standardwerke für die Klassische Philologie geworden und werden es wohl auch bleiben. 

Die menschliche Komponente seiner philologischen Anliegen drückte sich immer auch im Bemühen aus, seine Studierenden möglichst umfassend auch mit der antiken Lebenswelt und Kultur vertraut zu machen. Seine zahlreichen minutiös vorbereiteten, von ihm geleiteten und seiner Frau Irmgard begleiteten Exkursionen nach Griechenland, in die Türkei und nach Italien waren nicht unanstrengend, aber legendär und blieben bei allen in bester Erinnerung.

So lange er konnte, stand er mir als seiner Nachfolgerin auf liebenswürdigste Art und Weise bei Bedarf als verständiger Berater zur Seite.

Wir werden Richard Kannicht im Philologischen Seminar der Universität Tübingen stets ein dankbares und ehrendes Andenken bewahren.