Als Brigitte Kronauer 2005 der Georg Büchner-Preis verliehen wird, begrüßen das die Feuilletons einhellig als längst überfälliges Ereignis. Die 1940 geborene Autorin zählt seit ihrem Debütroman Frau Mühlenbeck im Gehäus zu den „herausragenden Erzählerinnen der Gegenwartsliteratur“ (ZEIT). Dabei erscheint der Roman 1980 zu einer Zeit, als es gerade Mode war, das Erzählen als überkommen und veraltet zu verabschieden. Kronauer hält am Erzählen fest und tut dies in einem unverwechselbaren Ton, der immer deutlich macht, dass man ohne Lesen und ohne Erzählen nicht überleben kann. Dabei werden keine sensationellen Ereignisse berichtet und keine komplizierten Geschichten erfunden. Vielmehr ist es etwa die Lebensgeschichte einer alternden Lehrerin, die über ihren banalen Alltag klagt: „Manchmal höre ich nachts die Amsel, die wohl aufgewacht ist und singt, oder es sind schon die ersten Töne im Morgengrauen. Das ertrage ich nicht. Ich stehe sofort auf. Diese Töne der Amsel sind so wehmütig, so aufregend, daß ich es nicht aushalte, noch länger still zu liegen. Plötzlich meint man, man hätte in seinem Leben etwas sehr Wichtiges versäumt. Ach, was würde ich darum geben, noch einmal ganz neu anfangen zu können, noch einmal einen ganz neuen Aufbruch zu wagen, einen völlig anderen Weg einzuschlagen, ein ganz anders geartetes Leben zu führen.“ Die Möglichkeiten, ein anderes Lebens zu führen, mehrere Leben zu führen, findet Frau Mühlenbeck – so wie alle anderen notorischen Leser auch – nur im Roman.
Kronauers Texte zeichnen Figuren, deren kreatives Potential Rettung und Verhängnis zugleich bedeuten kann. Rita Palka, die publikumsmüde Schriftstellerin und Hauptfigur in Zwei Schwarze Jäger, vertreibt sich während ihrer eigenen Lesungen vor gleichgültigen Stuhlreihen die Zeit. „In einem Nebenzimmer ihres Kopfes“ wird ihr alles, auch ihr Publikum, Geschichte und Text. Dabei weiß Rita, „daß alles, was als Geschichte erzählt wird, eine Beschwichtigung darstellt“.
Die besten Geschichten, so macht Kronauer in ihren Essays zur Literatur klar, sind aber diejenigen, die nicht beschwichtigen. Es sind zum Beispiel Erzähler wie Hubert Fichte und Robert Walser, die ohne Pathos und ganz unaufdringlich von der Vergeblichkeit berichten, in die chaotische Vielfalt der Realität Ordnungsschneisen zu schlagen. Ihr Scheitern ist tröstlich und erschreckend zugleich. Sie entwerfen dabei Figuren, die wir auch aus dem Film kennen, wie sie etwa Marlon Brando verkörperte: „Brandos Ausstrahlung ist immer gut und böse gleichzeitig, zärtlich und grausam bis ins Extrem, sie ist sogar 'weiblich' und 'männlich'! Bei Brando vermischen sich Extreme von Sanftheit und Gewalt, Liebe und Hass nie, er hält sie unvereinigt als Potenz, die zum Guten wie zum Bösen gleichermaßen fähig ist, in seinem Gesicht zusammen. […] Wir alle sind aus Bequemlichkeit ideologiesüchtig, so daß die nicht gezähmten, unberechenbaren Seiten unserer Natur, die unser Schaden, aber schwierigerweise ebenso unsere Rettung sind, das Potential nämlich von Sinnlichkeit und 'Renaissance', wegorganisiert werden.“
Brigitte Kronauer, die „Universalpoetin“ (FAZ), erzählt immer wieder von der Fähigkeit, Erleben, Leben und Lesen zum erzählerischen Gesamtkunstwerk zu formen. Ihre Texte bedienen sich im Archiv der Bilder, der Gerüche, der Töne und Melodien. Man muss zur Charakteristik ihres Stils „unwillkürlich Begriffe aus den anderen Künsten gebrauchen“ (FAZ). „Die brodelnde Natur“, sagt sie selbst, „gibt es nicht. Das Artifizielle ist das Reale.“ Sie wird im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur 2011 zusammen mit einem Philosophen und einem Maler diese Überschneidungen von Literatur, Bild und Weltweisheit ausloten.
Publikationen (Auswahl)
Frau Mühlenbeck im Gehäus (Stuttgart 1980)
Rita Münster (Stuttgart 1983)
Berittener Bogenschütze (Stuttgart 1986)
Die Frau in den Kissen (Stuttgart 1990)
Teufelsbrück (Stuttgart 2000)
Zwei schwarze Jäger (Stuttgart 2009)
Die Tricks der Diva (Stuttgart 2010)
Favoriten. Aufsätze zur Literatur (Stuttgart 2010)
Dieter Asmus, geboren 1939 in Hamburg, gehört zu den zentralen Vertretern eines ‚Neuen Realismus‘ in der Malerei der Nachkriegszeit. „Wir sehen, was wir wissen“, konstatiert Asmus. Da das Sehen nicht zuletzt durch Bilder geprägt wird, gilt es also einerseits, den vertrauten Umgang mit Bildern kritisch zu hinterfragen; andererseits bergen auch Bilder ein Erkenntnismoment der subtilen Verschiebungen. Gerade die Fotografie bietet Asmus – beispielweise mit Momentaufnahmen von Bewegungssequenzen – neue Aspekte der Wirklichkeit und so die Möglichkeit der „Verfremdung – und damit Erneuerung – der Gegenstände“. „Die künstlerische Sicht ist nicht eine graduell, sondern eine prinzipiell andere“, sie ist nach Asmus, ähnlich wie die eines Kindes, „existentiell“ in der sinnlichen Weltaneignung.
Brigitte Kronauer findet ihre eigene „Faszination von der Oberfläche“, „von der Oberflächlichkeit der Welt“ in Asmus’ Bildern wieder: „Es ist das Interesse an den Dingen selbst, in unterschiedlicher Beleuchtung, aber nicht reduziert auf ihren medialen Reflex, als sei plastische Realität nur noch ein Gerücht und allein per Presse, Funk und Fernsehen bekannt. Es ist die Überzeugung, daß Kunst in erster Linie Setzung, daß sie Weltherstellung ist, die sich doch immer auf eine gegenständliche Wirklichkeit bezieht.“ Es ist die „Gewalt der Malerei“ – so der Titel der 3. Vorlesung –, die sich hier zeigt. Die Konfrontation des Betrachters mit Asmus’ Bildern beschreibt Brigitte Kronauer als einen „ästhetischen Schock“, der bei ihrer eigenen Begegnung ein „heftig interessiertes, erregtes Befremden“ ausgelöst habe.
Mit Otto A. Böhmer, der 1949 in Rothenburg ob der Tauber geboren wurde, begleitet Brigitte Kronauer ein „Spezialist“. Das sei er vor allem, so die Autorin, „für das blitzartige, nicht willkürlich herbeizuführende Unterbrechen des grauen und kleinlichen Alltags“, außerdem „für die meist mit starken Glücksgefühlen verbundene Sekunde einer Erkenntnis oder Inspiration“.
Böhmer hat nach dem Studium der Philosophie, der Politologie, der Soziologie und der Literaturwissenschaft u. a. zu Nietzsche, Heine und Goethe publiziert. 2006 erschien sein Roman Der Zuwender, zu dem Brigitte Kronauer sich hingerissen äußert: „Ein Roman, für den Kunst, Liebe, Natur Existenzfragen sind, das Buch einer selbstironischen Suche nach Glück und Gott.“ Für seine „sprachlich brillante Schilderungskunst“ lobt die FAZ den Autor, der im Rahmen der Tübinger Poetik-Dozentur einen Bogen spannen wird von Friedrich Nietzsches Philosophie des Vormittags zu den Texten Brigitte Kronauers.
Publikationen (Auswahl)
Der junge Herr Goethe (München 2000)
Warum ich ein Schicksal bin. Das Leben des Friedrich Nietzsche (Leipzig 2004)
Der Zuwender. Historischer Roman aus der jüngsten Zeit (Bonn 2006)
Hegel & Hegel – oder Der Geist des Weines (Tübingen 2011)
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