Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2023: Leute

Einer der führenden germanistischen Mediävisten und Leibnizpreisträger

Zum Tode von Professor Dr. Burghart Wachinger ein Nachruf von Annette Gerok-Reiter, Klaus Ridder und Hans-Joachim Ziegeler

In seinem 91. Lebensjahr, am 29. September 2023, ist Burghart Wachinger, einer der führenden germanistischen Mediävisten, verstorben. Studiert hat er lateinische, griechische und deutsche Philologie in München und Berlin, promoviert 1958 bei Hugo Kuhn in München. Nach einigen Jahren als Lecturer in den USA (Bryn Mawr College, Pennsylvania, danach Harvard University) und einer Forschungsassistenz bei Hugo Kuhn folgte 1969 der Ruf auf den Lehrstuhl für Ältere deutsche Philologie (Nachfolge Hanns Fischer) an die Universität Tübingen, an der er bis weit über seine Emeritierung (1998) hinaus als herausragender Forscher und Forschungsorganisator wirkte. 

Während einer Feier zum Erscheinen des letzten und 14. Bandes (2008) des maßgeblichen Referenzwerkes für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters (Verfasserlexikon), das er von Beginn an (1978) mitherausgegeben hatte, bevor er (ab Bd. 9) die Federführung übernahm, brachte Burghart Wachinger seine Erleichterung über den Abschluss des Unternehmens zum Ausdruck: Nun gelte er wohl nicht länger als derjenige Forschende im Deutschen Seminar mit den besonders umfangreichen, dafür aber nicht fertigwerdenden Projekten. Dies war nicht nur in feiner Selbstironie gesprochen, sondern zeigt auch die Bescheidenheit des Wissenschaftlers, der nicht große Worte machte, sondern mit klarer Umsicht, genau reflektierten Methoden und beharrlicher Genauigkeit wirkte. Seine Großprojekte – und nicht nur diese – sind alle fertiggeworden mit außerordentlichem Gewinn für die Nachwelt: 2009 das ‚Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder‘ (16 Bde, zusammen mit Horst Brunner und Frieder Schanze), und schon 1999 erschien der 16. Band der gemeinsam mit Walter Haug herausgegebenen Reihe ‚Fortuna vitrea‘. 

1987 wurde Burghart Wachinger, zusammen mit Walter Haug, mit dem Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Die zuerkannten Fördermittel erlaubten die Durchführung von fachübergreifenden Tagungen zu literarischen Traditionen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, die Tübingen zu einem interdisziplinär beachteten Zentrum der Mediävistik machten. Eine kontinuierliche Folge von orangefarbenen Bänden in der neu gegründeten Reihe ‚Fortuna vitrea‘ vermittelte bald eine Vorstellung von der Vielfalt und Intensität dieses fachübergreifenden Gesprächszusammenhangs etwa über den späten höfischen Roman, die Passion Christi in Literatur und Kunst des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit oder über Kleinstformen der Literatur. 

Die Begeisterung sowohl für die ‚großen Werke‘ als auch für die kleinen Formen mittelalterlicher Literatur (episch-erzählende und lyrisch-sangbare Texte) führt Burghart Wachinger 1998 in seiner Antrittsrede zur Aufnahme in die Heidelberger Akademie (er war zudem korrespondierendes Mitglied der Göttinger und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften) auf zwei Prägungen zurück: zum einen auf den Einfluss der von der Mutter getragenen Leseabende in der Familie, die kriegsbedingt den fehlenden Schulunterricht mehr als ersetzten und Interesse und Begeisterung für Literatur, Theater und auch die kleinen literarischen Formen weckten; zum anderen auf die Ausstrahlung Hugo Kuhns in München, der Sensibilität für neue methodische, ideen- und gesellschaftsgeschichtliche Fragen der Literaturinterpretation entfachte. Die Aufnahme dieser neuen fachlichen Orientierungen verband Burghart Wachinger zugleich mit der Weiterführung von traditionell mediävistischen Arbeitsfeldern (Kodikologie, Textkritik u.a.) und den sprachgeschichtlich-literaturkritischen Voraussetzungen präziser literaturwissenschaftlicher Analyse – eine Kombination, die sich als besonders gewinnbringend für das Fach erweisen sollte. 

Durch den „Reiz der praktischen Seiten des Büchermachens“, der sich durch den Verlag des Großvaters, den der Bruder übernahm, vermittelte, habe er sich „immer wieder und weit über das übliche Maß hinaus in Herausgeberpflichten hineinziehen lassen“, so äußert er ebenfalls in der Heidelberger Antrittsrede. Zum großen Glück für die Altgermanistik – möchte man hinzufügen. Verfahrensweisen und Anspruchsniveau der in der ‚Altdeutschen Textbibliothek‘ publizierten Ausgaben, die er von 1979 bis 2001/02 verantwortet hat – ein weiteres Großprojekt –, gelten im Fach unbestritten als eine Art impliziter Bewertungsmaßstab für die editorisch-kritische Aufarbeitung und Präsentation mittelalterlicher literarischer Werke. 

Nach der Dissertation über das Nibelungenlied widmete sich Burghart Wachinger in seiner Habilitationsschrift den ‚Sängerkriegen‘ in der mittelhochdeutschen Spruchdichtung. Von hier aus wird ihn auf seinem weiteren Weg als Forscher und Lehrender die Faszination an der Lyrik nicht mehr loslassen. Um deren subtile Variationskunst zu erschließen, bedurfte es all jener Qualitäten, die Burghart Wachinger in besonderer Weise mitbrachte: philologische Kennerschaft, Wertschätzung des Details, Sinn für (nicht nur) sprachliche Musikalität. Diese Qualitäten suchte er auch in der Lehre weiterzugeben. Generationen an Studierenden und Promovierenden sensibilisierte er im Umgang mit literarischen Werken für eine Herangehensweise, die Exaktheit und Sachkenntnis mit dem Gespür für die Nuance verband. 

So hinterlässt er ein Erbe, das auf mehreren Ebenen Maßstäbe setzt. Wegweisend in Bezug auf sein schriftliches Oeuvre sind vor allem seine Arbeiten zur spätmittelalterlichen Lyrik und Sangspruchdichtung, zur Interdependenz von weltlicher und geistlicher Lied- und Erzähldichtung sowie zum Verhältnis von deutschen und lateinischen Klein- und Kleinstformen der Literatur. Seine Anthologie zur ‚Deutschen Lyrik des späten Mittelalters‘ (2006) bietet eine Art Summe seines Tuns: editorisch souverän durchgearbeitete Texte, eine reiche, jedoch nie überbordende Kommentierung und sprachlich brillant formulierte Übersetzungen. Beispielhaft kann dieses Werk, das den an mittelalterlicher Literatur Interessierten Wege in ein weites Terrain literaturästhetischer Entwicklung eröffnet, für ein umfangreiches und vielschichtiges Lebenswerk stehen. Burghart Wachinger war eine Ausnahmeerscheinung – als Lehrer, als Forscher, als Persönlichkeit.