Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2024: Studium und Lehre

„Traditionen sollten diejenigen erklären, die sie auch leben“

Studentin Naomi Lüderitz hat sich in Neuseeland mit dem Alltag von Maori-Gemeinschaften und kultursensibler Museumsarbeit beschäftigt

Marae, Karakia, Taonga, Poupou – wenn Naomi Lüderitz von Ihrem Studienprojekt in Neuseeland berichtet, gehen ihr Begriffe aus der Maori-Sprache ganz selbstverständlich über die Lippen. Die 23-Jährige hat sich zwei Monate lang intensiv mit der Kultur der Maori beschäftigt und erörtert, wie sich Taonga – materielle und immaterielle Kulturschätze – in westlichen Museen angemessen ausstellen lassen.

Schon während einer Reise nach dem Abitur hat sich Lüderitz für Neuseeland begeistert. Im Bachelorstudium der Ethnologie (Social and Cultural Anthropology) hat sie sich mit Museumsethnologie und postkolonialer Kritik befasst, nach der ethnologische Museen andere Kulturen vielfach aus westlicher Perspektive darstellen. Zudem hat sie sich in einem Seminar mit dem Hinematioro-Poupou beschäftigt, einem Schnitzwerk der ethnologischen Sammlung, das nach Hinematioro, der Ahnin einer Maori-Gemeinschaft, benannt ist. In diesem Rahmen hat Lüderitz auch die Provenienz des Poupou dokumentiert und eine kleine Ausstellung dazu im Stadtmuseum mit erarbeitet – und wollte anschließend noch mehr wissen.

Durch das Poupou hatte die Tübinger Ethnologie bereits Kontakte zur Maori-Community (einem sogenannten Iwi) aus der Gegend um Tolaga Bay im Nordosten Neuseelands, von wo das Poupou stammt, und zum nahegelegenen Tairawhiti Museum in Gisborne. Diese Verbindungen konnte Naomi Lüderitz von Februar bis April vor Ort vertiefen. Weitere Ziele ihres Aufenthalts: mehr über Geschichte des Poupou und das Alltagsleben der Maori-Gemeinschaft zu erfahren sowie die dortige Museumspraxis kennenzulernen.

Drei Tage pro Woche war die Studentin im Tairawhiti Museum tätig. Dort fand sie vor allem den Umgang mit den Taonga (Kulturgütern) bemerkenswert. Ein Poupou wie das von Hinematioro sei ein Abbild und zugleich eine Verkörperung der Ahnen, erklärt Lüderitz. „Darin sind ihre Energie und ihr Sein.“ Entsprechend werden Poupous respektvoll behandelt wie ein menschliches Gegenüber. Zu manchen Stücken müsse zunächst auch über eine gebetsartige Formel (Karakia) in Beziehung getreten werden. Dass es bestimmte Protokolle zu beachten gilt, sei im Tairawhiti Museum allen bewusst, auch den Beschäftigten, die keine Maori sind. In Neuseeland seien viele Taonga nur Leihgaben, auf die die Museen für eine bestimme Zeit aufpassen dürfen.

In vielen Gesprächen hat Lüderitz ausgelotet, wie eine kultursensible Ausstellung von Taonga gelingen kann. „Ich finde es wichtig, dass eine Tradition von denjenigen erklärt wird, die sie leben, und nicht von irgendwelchen Leuten hier, die drei Texte dazu gelesen haben,“ sagt sie. Unabdingbar sei auch, die Provenienzen von Ausstellungsstücken zu klären und die Maori-Communitys einzubinden, aus denen die Objekte kommen – und diesen die Entscheidung zu überlassen, was erzählt wird. Diese Art der dekolonialen Museumsarbeit sei aufwändig, meint die Studentin, aber nur so könne man den Menschen und ihrer Kultur gerecht werden.

Zwei weitere Tage pro Woche verbrachte Naomi Lüderitz im „Centre of Excellence“, einer Art Kulturzentrum, wo sie viel über Bräuche und Geschichte(n) der Maori erfuhr. Auch bei Ausflügen, etwa Besuchen im Marae (Versammlungsgelände) und Veranstaltungen dort, konnte Lüderitz viele Facetten ihrer Kultur kennenlernen. Ein Iwi, also eine Maori-Community wie die Te Aitanga a Hauti in Tolaga Bay, definiere sich als Gruppe vor allem über die Genealogie, erklärt Lüderitz, auch wenn diese verkürzte Definition die Bedeutung eines Iwi nur unzureichend beschreibe. Hinematioro, eine zentrale Führungsfigur des Iwi im 18./19. Jahrhundert, sei noch heute in Geschichten, Liedern und Tänzen präsent.

Dass die Maori ihre Traditionen offen leben und mit Stolz präsentieren, sei nicht immer so gewesen, erklärt Lüderitz. Lange Zeit seien die Indigenen, die etwa 15% der neuseeländischen Bevölkerung ausmachen, unterdrückt worden, ihre Sprache verboten. Damit gerieten auch viele Traditionen in Vergessenheit. Erst in den 1960er-Jahren lebte die Kultur wieder auf, 1987 wurde die Maori-Sprache als Amtssprache in Neuseeland anerkannt. Heute widmet sich das „Centre of Excellence“ der Weitergabe von Erzählungen und Traditionen, unter anderem durch Programme zur Kulturvermittlung für junge Maori.

Neben ihrem Wissen über die Maori und transnationale Museumsarbeit hat Naomi Lüderitz aus ihrem Aufenthalt auch etwas für ihr Studium mitgenommen. Sie habe einige Ethnographien über die Maori gelesen, „aber gut vorbereitet habe ich mich nicht gefühlt, weil vieles letztlich von weißen Personen über die Maori geschrieben wurde.“ In Zukunft will sie kritischer schauen, wer einen Text verfasst hat und in welchen Strukturen er entstanden ist, um die Inhalte besser einordnen zu können.

Der Austausch zwischen Tübingen und Tolaga Bay geht nach Naomi Lüderitz‘ Rückkehr weiter: Die Maori-Frau Tapuhi Tautau Broughton Tuapawa, mit der die Studentin im „Centre of Excellence“ zusammengearbeitet hat, ist Anfang Mai für einen sechswöchigen Aufenthalt nach Tübingen gekommen. Die Nachfahrin von Hinematioro besucht das Poupou ihrer Ahnin und möchte mehr über den Umgang mit Taonga in Deutschland erfahren. Wo immer sie ihre Perspektive einbringen kann, ist ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Dekolonialisierung der Museumswelt getan.

Tina Schäfer

Weitere Informationen

Kurzinfo zum Hinematioro-Poupou

Das Hinematioro-Poupou ist ein geschnitztes Wandpaneel eines Versammlungshauses aus der Ahnenlinie von Hinematioro, einer einflussreichen Maori-Führerin aus der Community der Te Aitanga a Hauti. Es kam mit James Cook Ende des 18. Jahrhunderts von Tolaga Bay nach Europa und über Umwege Ende der 1930er-Jahren in die Ethnologische Sammlung der Universität Tübingen. Nachdem es dort zunächst in Vergessenheit geraten war, befasste sich Kustos Dr. Volker Harms Mitte der 1990er-Jahre mit dem Kunstwerk und konnte die Verbindung zu den Te Aitanga a Hauti aus der Region Tolaga Bay herstellen. Im Jahr 2019 wurde das Poupou für die „Wiedervereinigung“ mit der Maori-Community nach Neuseeland gebracht und bis 2022 im Tairawhiti Museum in Gisborne ausgestellt. Seitdem ist das Poupou wieder in Tübingen. Mittelfristig soll es hier in Kooperation mit den Te Aitanga a Hauti ausgestellt werden