Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2022: Leute

Ein Leben für die Geschichte der islamischen Theologie

Zum Tod von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Josef van Ess ein Nachruf von Regula Forster

Am 20. November 2021 starb in Tübingen der Islamwissenschaftler Josef van Ess im Alter von 87 Jahren. Er war mehr als dreißig Jahre lang Professor für Islamkunde und Semitistik an der Universität Tübingen. Trotz zahlreicher Rufe an andere Universitäten (Princeton, Los Angeles, Chicago, Harvard University, Bonn und Oxford) hielt er Tübingen die Treue. Seine Arbeiten haben die Islamwissenschaft in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geprägt und Tübingen zu einem Zentrum des Faches gemacht beziehungsweise, um mit seinem alten Freund Benedikt Reinert zu sprechen, zum Mekka. 

Dabei war ihm eine solche Karriere sicher nicht in die Wiege gelegt, stammte er doch aus einfachen Verhältnissen und ein akademischer Weg war im kriegsversehrten Deutschland für ihn, der als Holländer geboren war, nicht vorgezeichnet. Er verdiente sich Geld als Fremdenführer in seiner Geburtsstadt Aachen und erwarb als junger Mann die deutsche Staatsangehörigkeit und damit die Möglichkeit zu einem Stipendium, mit dem er ab 1953 in Bonn und Frankfurt am Main ein Studium der Islamwissenschaft (mit den drei Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch), der Semitistik, Altphilologie und mittelalterlichen Philosophie aufnahm. 1959 erfolgte die Promotion in Bonn mit einer Arbeit über islamische Mystik, zu der ihn Hellmut Ritter angeregt hatte (Die Gedankenwelt des Ḥārit̲ al-Muḥāsibī, Bonn 1961). Von 1958 bis 1963 war er Assistent in Frankfurt, wo er sich 1964 mit einer Arbeit über die Erkenntnistheorie habilitierte (Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī, Wiesbaden 1966). Nach Stationen in Beirut, Frankfurt und Los Angeles kam er 1968 als Nachfolger Rudi Parets nach Tübingen. Hier war er dann auch in die Einrichtung der Forschungsstelle für Islamische Numismatik (FINT) sowie bei dem Antrag eines frühen Sonderforschungsbereichs, des „Tübinger Atlas des Vorderen Orients“ (TAVO), maßgeblich involviert.

Mit der Habilitation hatte van Ess zu seinem Thema gefunden, der Geschichte der islamischen Theologie. Dabei ging es ihm nicht um Wahrheit, sondern um Geistesgeschichte. Darüber schrieb er eine verblüffende Zahl von Büchern, die alle noch immer lesenswert sind. Sein unbestrittenes Opus magnum ist das sechsbändige Werk Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam (Berlin 1991–97). Hier diskutiert er Autoren und Denker und deren Konzepte von Gott und der Welt. Das Werk ist so zentral, dass es inzwischen sogar ins Englische übersetzt worden ist (Leiden 2016–20). 

In anderen seiner zahlreichen Monographien stellte er das Ḥadīṯ, also die Aussagen des Propheten Muḥammad, ins Zentrum (so etwa in Zwischen Ḥadīṯ und Theologie, Berlin 1975) oder befasste sich mit eschatologischen Vorstellungen (Chiliastische Erwartungen und die Versuchung der Göttlichkeit, Heidelberg 1977). Schon 1971 hatte er sich mit der Häresiographie befasst (Frühe muʿtazilitische Häresiographie. Zwei Werke des Nāšiʾ al-Akbar (gest. 293 H.)), ein Thema das er in zwei Bänden unter dem Titel Der Eine und das Andere. Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten (Berlin 2011) fünfzig Jahre später wieder aufnahm. In Der Fehltritt des Gelehrten. Die „Pest von Emmaus“ und ihre theologischen Nachspiele (Heidelberg 2001) ging er insofern über Theologie und Gesellschaft hinaus, als es ihm hier nicht mehr um die Rekonstruktion historischer Realität ging, sondern um den Diskurs. 

Für van Ess war Pluralität die Essenz des Islam: Mit seinen Forschungen wollte er auch Muslimen in Deutschland die Vielschichtigkeit möglicher theologischer Deutungen bewusst machen. Seine Schriften zeugen von seiner Liebe zur Philologie, seinem Streben nach dem Verstehen von Texten, Konzepten und Ideen, aber auch von seinem Esprit und seiner umfassenden Bildung. Das Schreiben und Forschen war ihm nicht Pflicht, sondern Vergnügen und Berufung. Oder wie er einmal sagte: „Und warum tun wir das alles? Weil es uns Spaß macht.“ Josef van Ess war großzügig mit seinem Wissen und seiner Zeit: Er nahm seine Studierenden und alle jüngeren Forschenden ernst, und selbst wenn seine Kritik rabiat ausfallen konnte, so war sie doch auch immer Zeugnis dafür, dass er sich mit den vorgebrachten Thesen ernsthaft auseinandergesetzt hatte. Seine Gelehrsamkeit und sein Lachen werden uns fehlen.