Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2010: Schwerpunkt

Fundament des Regenbogens – die Verfassung von Südafrika

Vor 14 Jahren erhielt Südafrika eine neue Verfassung. Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Schneider, Gastautor von "Uni Tübingen aktuell", war bei der Entstehung dieser Verfassung maßgeblich beteiligt, als Berater für die Verfassunggebende Versammlung. Sein Fazit: die südafrikanische Verfassung hat sich – trotz aller Probleme – in der Praxis bewährt.

Vor genau 14 Jahren versuchte ein kleines Plakat, das in allen Landesteilen Südafri­kas aushing, die Bevölkerung zur aktiven Mitwirkung an der öffentlichen Verfassungsdebatte zu motivieren. Abgebildet war der Ausriss aus einem Lexikon mit der im englischen Sprachraum wohl gängigsten Definition einer Verfassung: "The constitution is an instrument of government from the people and a construction thereof should ….". Den Rest konnte man nicht lesen. Darunter stand in großen Lettern: "Now you know what a constitution is. Write one!" Besser als dieses Plakat hätte man die Offenheit, Unbefangenheit und Freimütigkeit, mit denen man in Südafrika nach dem Ende der Apartheid zu Werke ging, um der "Regenbogen-Nation" – Zitat Erzbischof Desmond Tutu – eine neue Verfassung zu geben, nicht beschreiben können.

Zunächst sah es nicht nach einer raschen Einigung aus. Zu Beginn der 1990er-Jahre bot die damals noch herrschende National Party (NP) der schwarzen Bevölkerungsmehrheit nur eine Beteiligung an der Macht an. Dagegen forderte deren politischer Arm, der African National Congress (ANC), zuallererst ein allgemeines und gleiches Wahlrecht für alle und die Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversamm­lung. Doch obwohl diese Vorstellungen eigentlich einander ausschlossen, einigte man sich auf ein Ver­fahren, in dem beide Konzepte nacheinander verwirklicht werden konnten. Zu­nächst fand eine große "Konferenz für ein demokratisches Südafrika" statt, in der die führenden Gruppen der Zivilgesellschaft bei starker Über­legenheit der Weißen vertreten waren. Sie schuf eine Übergangsverfassung mit 34 Prinzipien, an welche die anschließend demokratisch gewählte Nationalversammlung mit ei­ner Zweidrittelmehrheit des ANC gebunden war. Über die Einhaltung dieser Grundsät­ze wachte schließlich das bereits von der Übergangsverfassung geschaffene Verfassungsgericht.

Dennoch gab es im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung noch genügend Streitpunkte. Dazu gehörten etwa die Frage einsprachiger Schulen, an deren Erhaltung die Afrikaans sprechende Bevölkerungsgruppe besonders interessiert war, oder das Problem der Landreform, unter deren Vorbehalt die Eigentumsgarantie gestellt werden sollte. Hart umkämpft war auch die Binnengliederung des Landes. Der ANC hatte sich für einen weitgehend zen­tra­listischen Staatsaufbau ausgesprochen, während die übrigen Parteien eher födera­le Strukturen favorisierten. Nach der Bildung von neun Provinzen ging es vor allem um die Frage, ob diese lediglich Verwaltungsfunktionen oder darüber hinaus auch eigene Parlamente und Regierungen erhalten sollten. Die Zustimmung zu jener "demokratischen" Struktur konnte dem ANC nur dadurch abgerungen werden, dass die Provinzen nach dem Vorbild des deut­schen Bundesrates in Gestalt des "National Council of Provinces" ein Verfassungsorgan er­hielten, mit dem sie auf zentraler Ebene in die gesamtstaatliche Verantwortung eingebunden werden konnten.

Die Verfassung wurde schließlich am 6. Mai 1996 in der Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit verabschiedet und anschließend in einer Volksabstimmung nahezu einmütig bestätigt. Dies war nicht zuletzt das Verdienst des Verfassungsausschusses und sei­ner Leitung, die während der fast zweijährigen Tätigkeit keine einzige Abstimmung erlaubte, bei der der ANC seine Mehrheit hätte aus­spielen können; stattdessen wurden alle Fragen solange diskutiert, bis eine Verständigung erzielt worden war. In dieser Art, aufeinander ein- und zuzugehen sowie die notwendigen Kompromisse zu schließen, liegt wohl auch das Geheimnis der Stabilität und Kontinuität des Verfassungslebens in einem Land mit nicht weniger als elf Amtssprachen, mindestens ebenso vielen Volksgruppen, allen Hautfarben und Religionen.

Auch im politischen Alltag hat sich die Verfassung bewährt. Sie ist bisher nur unwesentlich geändert worden. Viermal haben demokratische Wahlen stattgefunden, aus denen jeweils der ANC als klarer Sieger hervorgegangen ist. Zu den Schattenseiten der unangefochtenen ANC-Herrschaft gehört jedoch die zunehmende Korruption auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft. Begünstigt durch ein reines Listenwahlsystem, das längst reformiert und um Wahlkreis­mandate hätte ergänzt werden müssen, liegt die Macht nicht in den Händen der Regierungen, sondern der Parteizentralen. Seit einiger Zeit regt sich aber innerhalb wie außerhalb des ANC dagegen Widerstand, der zukünftig vielleicht in ein normales Wechselspiel von Regierung und Opposition münden wird.

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Schneider

 

 

Der Verfassungsrechtler Professor Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Schneider war Mitte der 1990er-Jahre als Berater des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung maßgeblich beteiligt an der Entwicklung der neuen Verfassung von Südafrika. Der 72-Jährige lehrte bis zu seiner Emeritierung an der Universität Hannover, er ist Geschäftsführender Direktor des "Deutschen Instituts für Föderalismusforschung e.V." in Hannover. Im Sommersemester 1973 und im Wintersemester 1973/74 hatte er an der Universität Tübingen die Vertretung für den Lehrstuhl des früheren Tübinger Rektors Otto Bachof inne.