Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2010: Leute

Ein letzter Generalist

Zum Tode von Professor Dr. Gerhard Müller-Schwefe ein Nachruf von Christoph Reinfandt

Kurz nach seinen 96. Geburtstag am 23. April ist der Anglist Gerhard Müller-Schwefe verstorben. Als langjähriger Inhaber des bei seiner Berufung im Jahre 1956 einzigen Lehrstuhls für Englische Philologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen hat er die Geschichte des hiesigen Englischen Seminars wie kein anderer geprägt und war auch nach seiner Emeritierung im Jahre 1980 bis zuletzt regelmäßig im Englischen Seminar anzutreffen. Gerhard Müller-Schwefe konnte auf eine Jahrhundertkarriere als Wissenschaftler zurückschauen, die nach Kriegswirren und Gefangenschaft von großer Kontinuität geprägt war. Er studierte zunächst in Berlin und Tübingen die Fächer Deutsch, Englisch, Theologie und Philosophie. Mit Annahme des Angebots einer wissenschaftlichen Assistentenstelle am Englischen Seminar der Universität Tübingen wendete sich der promovierte Germanist im Jahre 1950 endgültig der Anglistik zu und habilitierte sich 1954 für das Fach Englische Philologie.

Schon kurz nach Annahme des dann unmittelbar folgenden Rufes auf eine Diätendozentur am Englischen Seminar der Universität Göttingen kehrte Müller-Schwefe nach Tübingen zurück, wo er nach dem Tod Carl August Webers zunächst mit der Vertretung des Lehrstuhls betraut und 1956 schließlich auf diesen berufen wurde. Als anfänglich einziger Fachvertreter deckte Müller-Schwefe hier über lange Jahre die ganze Breite des Faches vom Mittelalter bis zur Gegenwart in sowohl sprachhistorischer als auch literatur- und kulturgeschichtlicher Hinsicht ab. Er verstand sich dabei stets als Generalist, dessen breites Wissen dann allerdings maßgeblich zur geordneten Ausdifferenzierung des Faches Anglistik beitrug, als auch am Englischen Seminar Tübingen nach und nach spezialisierte weitere Professuren geschaffen wurden. Zugleich vertrat er durch seine langjährige Tätigkeit am Deutschen Institut für Fernstudien das Fach Englisch auch über den universitären Kontext hinaus.

Müller-Schwefe hat vielbeachtete Publikationen insbesondere zur Shakespeare-Zeit und zum Viktorianischen Zeitalter vorgelegt und war als passionierter Literaturwissenschaftler doch offen für andere Medien. Schon früh bezog er etwa den Film in seine akademische Lehre mit ein, und nach seiner Emeritierung verbrachte er intensive Jahre mit einem Forschungsprojekt über Shakespeares Hamlet im Spiegel der Medien, dessen Ergebnisse er 1987 vorlegen konnte. Bis ins hohe Alter sammelte und edierte Gerhard Müller-Schwefe alte und neue deutschsprachige Shakespeare-Parodien, gefolgt von Studien zum Englandbild der Deutschen und zur Geschichte des Englischen Seminars an der Universität Tübingen. Auch über dieses hinaus hat Gerhard Müller-Schwefe durch die Betreuung von über fünfzig Doktoranden, von denen fünf nach der Habilitation auf Lehrstühle berufen wurden, bleibende Spuren in der deutschen Anglistik hinterlassen.

Professor Dr. Christoph Reinfandt