Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2010: Forschung

Gehen oder bleiben?

Warum Nachwuchswissenschaftler der Universität den Rücken kehren

Was bewegt einen Nachwuchswissenschaftler dazu, eine Universitätskarriere zu verlassen und sich einen anderen Karriereweg zu suchen? Vor rund einem Jahrzehnt ist das Dienstrecht für Professoren in Deutschland ausdrücklich mit dem Ziel geändert worden, die Universitätskarriere attraktiver zu gestalten. Doch bis heute ist weder theoretisch noch empirisch untersucht, welche Einflussfaktoren eigentlich die Entscheidung für oder gegen eine Universitätskarriere bestimmen.


In einer aktuellen Studie in der „Zeitschrift für Betriebswirtschaft“ kommen Professor Dr. Kerstin Pull und Kristin Chlosta vom Lehrstuhl für Personal und Organisation der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen sowie Professor Dr. Marina Fiedler von der Universität Passau (Lehrstuhl für Management, Personal und Information) und Professor Dr. Isabell M. Welpe von der Technischen Universität München (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, Strategie und Organisation) zu dem Ergebnis, dass für den Wechsel von der Universität weg in eine alternative Karriere keineswegs nur finanzielle Gründe eine Rolle spielen. Die Forscherinnen konnten erstmals empirisch untermauern, dass für die Entscheidung für oder gegen die Universitätskarriere auch andere Dinge entscheidend sind: die Arbeitsfreude, der Erfolg beim Publizieren in angesehenen Fachzeitschriften und damit der Nachweis von Fähigkeiten, die für die Universitätskarriere sehr wichtig sind, sowie die Frage, welchen Wert der Nachwuchsforscher darauf legt, ein Einkommen heute zu erzielen und nicht erst in der Zukunft.


Die Autorinnen der Studie haben auf der Basis erster theoretischer Überlegungen Daten aus einer Befragung analysiert, die Fiedler und Welpe im Rahmen ihrer Habilitation in den Jahren 2005 und 2006 vorgenommen hatten. Die Befragung umfasste 578 Nachwuchswissenschaftler aus dem Bereich der Betriebswirtschaftslehre in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz.


In der aktuellen Studie gehen die Forscherinnen von der Grundannahme aus, dass ein Nachwuchswissenschaftler sich für denjenigen Karriereweg entscheidet, von dem er den höchsten Nutzen erwartet. Auf diese Erwartung hat eine Vielzahl von Faktoren Einfluss, die keineswegs nur monetärer Natur sind. So zeigte sich zum Beispiel ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Zeitpräferenzrate und dem Verlassen der Hochschule: Je mehr Kinder ein Befragter hatte, das heißt je höher seine Präferenz für heutiges Einkommen war, desto wahrscheinlicher war es, dass er sich eine Aufgabe außerhalb der Hochschule gesucht hatte, statt den langwierigen und mit Risiken gepflasterten Weg zur Hochschulkarriere einzuschlagen. Dieses Ergebnis liefert einen Hinweis darauf, dass weniger die absolute Höhe als vielmehr die subjektive Bewertung des Einkommens eine zentrale Rolle bei der Karrierewegentscheidung spielt.


Deutlich wurde auch, dass eine hohe Arbeitsfreude bei den an der Hochschule ausgeführten Tätigkeiten ein wichtiges Kriterium für das Verbleiben im universitären Karriereweg ist. Und auch diejenigen, die für eine Universitätskarriere relevante Fähigkeiten mitbrachten, entschieden sich signifikant seltener für einen Wechsel in eine alternative Karriere. Als Maß für diese karriererelevanten Fähigkeiten nahmen die Autorinnen den Umfang an Veröffentlichungen in angesehenen Fachzeitschriften. Allerdings weisen sie darauf hin, dass zwar die Karrierewegentscheidung vom Ausmaß der karriererelevanten Fähigkeiten abhängen kann, dass es jedoch auch denkbar ist, dass ein Nachwuchswissenschaftler, der diese Fähigkeiten nicht im ausreichenden Umfang mitbringt, irgendwann aus dem System ausscheiden muss, da er weder einen Ruf noch für eine weitere Beschäftigung einen Vertrag erhält.


Wenngleich diese Ergebnisse intuitiv plausibel erscheinen, konnten sie bisher nicht empirisch untermauert werden. Die Forscherinnen ziehen das Fazit: „Zukünftige Reformen im Karrieresystem der Universitäten sollten daher vor dem Hintergrund unserer empirischen Analyse verstärkt darauf abzielen, die Entwicklung der für eine Universitätskarriere relevanten Fähigkeiten der Nachwuchswissenschaftler zu unterstützen sowie ein Umfeld zu schaffen, in dem die Arbeitsfreude der Nachwuchswissenschaftler gefördert wird. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang, dem wissenschaftlichen Nachwuchs mehr Raum für selbstbestimmtes Forschen zu bieten, wie dies mit Einführung der Juniorprofessur angestrebt war.“

Die Studie:

Kristin Chlosta (Erstautorin), Kerstin Pull, Marina Fiedler, Isabell M. Welpe: „Should I stay or should I go? – Warum Nachwuchswissenschaftler in der Betriebswirtschaftslehre das Universitätssystem verlassen“, erschienen in: „Zeitschrift für Betriebswirtschaft“, Volume 80 (2010), Number 11, 1207-1229. DOI: 10.1007/s11573-010-0403-1


Rainer Klüting