Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2010: Leute

Ein lutherischer Vermittlungstheologe im besten Sinne des Wortes

Zum Tode von Professor Dr. Hans Martin Müller ein Nachruf von Volker Drehsen

Am Abend des Martinstages ist Hans Martin Müller, bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 Professor für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Tübinger Universität, nach langer, schwerer Krankheit verstorben. Im diesem Dezember wäre er 82 Jahre alt geworden.

Mit ihm verliert der deutsche Protestantismus eine profilierte Gestalt lutherischer Vermittlungstheologie im besten Sinne des Wortes. Zwischen den Spannungspolen von Kirche und Gesellschaft, Frömmigkeit und Wissenschaft, Glaube und Bildung, Christentum und Humanismus orientierte sich sein ganzer beruflicher Lebensweg. Als der 1928 in eine Arbeiterfamilie Bremens geborene und hier mit kurzen Unterbrechungen durch Kriegsdienst und Gefangenschaft bis zu seinem Abitur 1949 aufgewachsene, in Hamburg, St. Peter (Minnesota, USA) und Erlangen studierte evangelische Theologe 1979 nach Tübingen berufen wurde, hatte er bereits eine beachtliche Karriere in der Hannoverschen Landeskirche hinter sich: Pfarrer in Göttingen, Studiendirektor des Predigerseminars Imbshausen, Rektor des Pastoralkollegs Göttingen. 1972 wurde er Ausbildungsdezernent im Landeskirchenamt Hannover.

In der Vielzahl seiner kirchlichen, später auch universitären Ämter hat sich Müller stets drohender Theologievergessenheit ebenso energisch widersetzt wie der Tendenz zu kirchlicher Abschottung oder vereinsmäßiger Eigenbrötlerei. Im wissenschaftlichen Reflexionsvermögen der Theologie sah er eine unentbehrliche Grundlage der pastoralen Praxis: Keine Kirchenpraxis ohne theologische Wissenschaft, keine universitäre Theologie ohne kirchlich-religiösen Praxisbezug – so lautete sein ceterum censeo. Er selbst verkörperte die geglückte Verbindung von kirchlichem Interesse und wissenschaftlichem Geist.

Die eigene theologische Kompetenz hat sich Müller vor allem in einem gründlichen Studium von Luthers Werken erarbeitet. Dieses führte zunächst zu einer in Erlangen bei Wilhelm Maurer entstandenen Doktorarbeit über „Die Heilsgeschichte in der Theologie des jungen Luthers“ (1956). Zugleich war damit der Grundstock jener profunden Luther-Kenntnisse gelegt, die ihm vorrangig als prägnante Denkschule der eigenen theologischen Urteilsfähigkeit diente. Seine lutherisch-konfessionelle Festigkeit ermöglichte ihm eine Gradlinigkeit ohne jeden Hang zu fanatischem Parteigängertum und hat ihn immer wieder als geborenen Vermittler zwischen theologischen und kirchenpolitischen Richtungskämpfen in Kirche und Wissenschaft empfohlen.

So war Müller glänzend vorbereitet, als er im Jahre 1979 auf dem Lehrstuhl für Praktische Theologie in Tübingen die Nachfolge Werner Jetters antrat. Der Lehrstuhl und die damit verbundene Leitung der Evangelischen Predigeranstalt ist dem Schwerpunkt Homiletik gewidmet, zielt also nach evangelischem Verständnis auf das Zentrum aller kirchlichen Lebensäußerungen: „Wenn Kirche sein will, muss das Evangelium laut werden“, heißt die Grundthese seines Standardlehrbuches „Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre“ (1996).

Schwerer wog für ihn das Abenteuer, sich mit norddeutscher Nüchternheit und lutherischem Realitätssinn auf schwäbische Frömmigkeit einzulassen. Müller hat dies in zahlreichen kirchlichen Ehrenämtern mit unerschrockener Hingabe getan. In zwei Legislaturperioden vertrat er die Tübinger Fakultät in der württembergischen Landessynode, in deren Theologischem Ausschuss und im Kuratorium des Pfarrseminars Birkach. Mit Besonnenheit, oft auch mit einer gehörigen Portion Witz und Weisheit hat er hier immer wieder seinem theologischen Sachverstand und treffsicherem Urteil Gehör zu verschaffen gewusst.

Im Zentrum seiner theologischen Forschung stand die konfessionelle Identität des Protestantismus in ökumenischer Orientierung unter den pluralistischen Bedingungen moderner Gesellschaftskultur. Er wollte auf seine Weise das Erbe reformatorischer Theologie durch alle geschichtlichen Veränderungen hindurch bewahren, nicht in bloß apologetischer Abwehr widerstreitender geistiger, weltanschaulicher und anderskonfessioneller Strömungen, sondern in gesprächsbereiter, ökumenisch offener und intellektuell ernsthafter Auseinandersetzung mit ihnen.

Müller hat sich nicht nur mit theologischer Forschung und wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen begnügt, sondern neben seiner Tätigkeit als akademischer Lehrer, Forscher und Publizist jahrelang auch als Frühprediger auf der Kanzel der Tübinger Stiftskirche gestanden. Dort hat er gepredigt, wie er war: theologisch fundiert, lebenserfahren und den Menschen zugewandt, treffsicher im eigenen Urteil und die eigene protestantische Frömmigkeit ohne geschwätziges Pathos in klarer Sprache deutlich auf den Punkt gebracht. Nicht nur als akademischer Lehrer, sondern gerade auch als praktizierender Prediger wollte er überzeugen durch die Kraft seiner Argumente und die Glaubwürdigkeit seiner Person, die stets hinter die Sache der Evangeliumsverkündigung zurücktrat. So war er ganz ein Mann, der den Hilfesuchenden Trost und Rat wusste. Da ihm nichts Menschliches fremd war, auch nicht in der organisierten Kirche, an deren häufigem Adlerblick für Unwesentliches er zunehmend gelitten hat, vermochte er dennoch, in ihr seine „Heimat“ im übergreifenden Sinne zu sehen: „eine irdische Station auf dem Weg zur ewigen Heimat, wo die Liebe alles in allem sein wird.“