Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2012: Forschung

Erosionsforschung: Wie Landschaften ihr Gesicht verändern

Geowissenschaftlerin Dr. Mirjam Schaller liest aus einer Handvoll Sand Erdgeschichte

Wenn Dr. Mirjam Schaller in ihr Archiv geht, muss sie sich wetterfest anziehen. Denn die Datenbanken, aus denen sie Informationen gewinnt, liegen in freier Natur und meist unter Wasser. In Flusssedimenten ‒ den Ablagerungen in einem Flussbett ‒ untersucht die Geologin Erosionsraten: Sie will wissen, wie schnell Landschaften im Lauf der Erdgeschichte abgetragen wurden, und unter welchen Einflüssen.


Landschaften verändern stetig ihr Gesicht; Regen, Wind aber auch die Nutzung durch Tier und Mensch lassen sie erodieren. Tempo und Intensität jedoch haben sich in der Erdgeschichte immer wieder verändert. So wisse man beispielsweise, dass die Erosionsrate vor 20.000 Jahren in Europa höher war als heute, erzählt Schaller. Einer der Gründe dafür sei, dass es nach der letzten Vergletscherung weniger Vegetation gegeben habe.


Solche Zusammenhänge sind ihr Forschungsinteresse: Welche Rolle spielt das Klima? Erhöht menschlicher Einfluss die Erosion oder kommt es eher auf langfristige Faktoren an? Die Schweizerin hat dazu bereits in den USA und in Taiwan geforscht, seit 2009 beschäftigt sie das Thema am Institut für Geowissenschaften der Universität Tübingen. In einem soeben bewilligten DFG-Projekt will sie sich zusammen mit Prof. Todd Ehlers vier Flüsse in Spanien, Frankreich und Tschechien vornehmen.


Der Schlüssel ist das Isotop „10-Beryllium“, das entsteht, wenn kosmische Strahlung auf bestimmte Mineralien trifft. Nimmt Schaller Sandproben aus einem Fluss, kann sie dieses sogenannte „kosmogene Nuklid“ messen und aus der Menge schließen, wie schnell hier Material transportiert wird. „Findet sich eine hohe Konzentration, hat der Sand viel kosmische Strahlung abgekriegt und lag lange an der Erdoberfläche, die Erosion ging also langsam voran. Eine geringe Konzentration deutet darauf hin, dass die Landschaft schnell erodiert.“
Kosmogene Nuklide sind nur durch eine komplizierte Prozedur im Labor nachzuweisen, denn in einem Gramm Quarz werden pro Jahr gerade mal fünf Atome Beryllium produziert. Und doch lässt sich auf diese Weise aus nur einer Handvoll Sand die Geschichte einer ganzen Landschaft ablesen.


Vor allem Stufenlandschaften wie in der Region um Maastricht sind besonders ergiebig: Bis zu 1,5 Millionen Jahre Erdgeschichte können Forscher hier erkunden. Im neuen Projekt will Mirjam Schaller nun Flussterrassen in verschiedenen Klimazonen untersuchen. „Außerdem möchte ich den sibirischen Fluss Lena erforschen, bisher wahrscheinlich der nördlichste Fluss, in dem Erosionsraten untersucht wurden.“


Für ihre „innovativen und interdisziplinären Arbeiten“ verleiht die Geologische Vereinigung ihr in diesem Jahr den mit 10.000 Euro dotierten Hans-Cloos-Preis. Die Geologin hat derweil das übernächste Projekt im Blick: Zusammen mit Prof. Madelaine Böhme will sie Flussablagerungen datieren, die zwischen sieben und acht Millionen Jahre alt sind. „Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, aber ich denke bis zu zehn Millionen Jahre können wir zurückgehen.“

Antje Karbe