Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2014: Forschung

Sicherheit in deutschen Städten

Forschungsprojekt am Tübinger Ethikzentrum untersucht Ungerechtigkeiten bei der „Herstellung und Verteilung“ von urbaner Sicherheit

Der Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg ist bekanntermaßen ein Ort des Straßenhandels mit illegalen Drogen. Im Laufe des Jahres 2014 eskalierten die Konflikte dort. Anwohnerinnen und Anwohner des Stadtteils, der aufgrund steigender Mieten und anschwellender Touristenströme einen starken Wandel durchmacht, verwiesen mit Nachdruck auf den Kinder- und Jugendschutz. Stadtpolitische Initiativen warfen ihnen vor, rassistische Ressentiments – wie etwa „die Schwarzen verkaufen unseren Kindern Drogen“ – zu bedienen und die Verdrängung von marginalisierten Menschen in die Schattenwirtschaft auszublenden. Die Behörden sind hin und hergerissen: den Beschwerden nachgeben und den illegalen Handel aufreiben oder die „Szene“ doch lieber an einem Ort unter Kontrolle halten? Inzwischen gibt es eine Polizei-Dauerstreife; von Anwohnerseite wurde ein selbstorganisierter „Begleitdienst“ für die Schulkinder vorgeschlagen und denkbar ist auch, dass bürgerschaftliche Tätigkeiten aktiv in das Sicherheitskonzept einbezogen werden.

Der Berliner Fall steht beispielhaft für Probleme, die in dem neuen Forschungsprojekt „Aspekte einer gerechten Verteilung von Sicherheit in der Stadt“ (VERSS) untersucht werden sollen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt ist am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen angesiedelt. Neben dem IZEW sind die Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement der Universität Tübingen (SKR), die Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin (KFS) und das Institut für Sicherungssysteme der Bergischen Universität Wuppertal (ISS) als Kooperationspartner beteiligt.

Städte sind heute mehr denn je Orte, an denen Menschen mit den verschiedensten Hintergründen und Lebensstilen zusammenkommen. Ihr Rückgrat bilden komplexe Infrastrukturen und häufig sind sie in sich gespalten in „Problemviertel“ mit hoher Arbeitslosigkeit und verfallender Bausubstanz auf der einen sowie die Quartiere der Bessergestellten mit hohen Mieten, Galerien und Bioläden auf der anderen Seite. Aber auch zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten tun sich Risse auf. Kurz gesagt: größere Städte sind grundsätzlich Orte der Unsicherheit. Dabei ist das Sicherheitsempfinden und -bedürfnis ihrer Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedlich und verwoben in Prozesse des sozialen, politischen und kulturellen Wandels. Ebenso dynamisch und kontextabhängig sind die Reaktionen der kommunalen Politik hierauf.

Unter der Annahme, dass also jede Stadt ihren „Görlitzer Park“ hat, bleibt die Entwicklung effektiver als auch gesellschaftlich wünschenswerter Sicherheitsmaßnahmen eine Herausforderung, der die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Projekt VERSS systematisch nachgehen werden. Sicherheit betrachten sie als begrenzte, aber auch zu begrenzende Ressource, die unter den Bürgerinnen und Bürgern einer Stadt „verteilt“ werden muss. Die forschungsleitende Frage lautet, wie eine gerechte Verteilung von Sicherheit in der Stadt möglich ist. In den ausgewählten Städten Stuttgart und Wuppertal werden Untersuchungen hinsichtlich der Kriminalitätsbelastung, aber auch darüber hinaus in Hinblick auf die Bewältigung von Großschadensereignissen und die alltäglichen Sicherheitsprobleme durchgeführt. Einen Schwerpunkt bildet die auf ethnographische Methoden – teilnehmende Beobachtung, narrative Interviews etc. – zurückgreifende dichte Beschreibung von Formen bürgerschaftlichen Engagements, in denen sich die Beteiligten mit Fragen zur Sicherheit auseinandersetzen. Ziel ist letztendlich die Erarbeitung von Leitlinien, die die Forschungsergebnisse für die Akteure urbaner Sicherheit nutzbar machen. Sie sollen etwa eine Orientierungs- und Entscheidungshilfe im Fall von Interessenkonflikten zwischen Bürgern, Politik, Polizei, Interessenverbänden und Initiativgruppen bieten.

Weitere Informationen und Kontakte unter:

http://www.izew.uni-tuebingen.de/forschung/sicherheitsethik/verss.html

Peter Bescherer