Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2020: Leute

Ophthalmologe mit Weitsicht

Zum Tod von Professor Dr. Hans-Jürgen Thiel ein Nachruf von Jens Martin Rohrbach und Karl Ulrich Bartz-Schmidt

Am 22. August 2020 starb Professor Dr. Hans-Jürgen Thiel, von 1980 bis 1999 Inhaber des Lehrstuhls Augenheilkunde I (Allgemeine Augenheilkunde mit Poliklinik) an der Universität Tübingen, in Tübingen im 87. Lebensjahr. Thiel wurde am 5. März 1934 in Gelsenkirchen geboren und studierte in Freiburg zunächst Mathematik, Physik und Chemie, wandte sich dann aber der Medizin in Freiburg, Heidelberg, Innsbruck und wieder Freiburg zu. Nach dem Staatsexamen und einer Tätigkeit als Assistenzarzt der Neurologie in Hamburg trat er 1963 in die Universitäts-Augenklinik Kiel ein, wo er sich, der Tradition der Klinik folgend, schwerpunktmäßig mit den genetisch bedingten Erkrankungen (Dystrophien) der Hornhaut beschäftigte. Im Jahre 1967 beschrieb er in den „Klinischen Monatsblättern für Augenheilkunde“ gemeinsam mit dem Genetiker H. Behnke „eine bisher unbekannte, subepitheliale hereditäre Hornhautdystrophie“, die bis heute den Namen „Thiel-Behnke-Hornhautdystrophie“ trägt. Im Jahre 1969 erfolgte die Habilitation mit einem Hornhaut-genetischen Thema, 1973 die Ernennung zum „außerplanmäßigen Professor“ in Kiel.

Nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl in Tübingen 1980 blieb Hans-Jürgen Thiel den Hornhautdystrophien treu, dachte aber auch weit über die Hornhaut  und die Genetik hinaus. So begründete er in Tübingen den heute angesehenen Schwerpunkt „Entzündungen des Auges“, befasste sich mit den Glaukomen und den okulären Manifestationen von Allgemeinerkrankungen. Schließlich nahm er mit der Einrichtung eines Laser-physikalischen Labors eine Weichenstellung in die Zukunft vor. Etablierte Strukturen wie insbesondere das von seinem Vorgänger Gottfried Naumann ausgebaute ophthalmopathologische Labor förderte er wie er sich überhaupt jeder guten, wissenschaftlichen Idee gegenüber aufgeschlossen zeigte. „Wir sind eine Universitätsklinik. Es ist egal, was Sie machen, aber machen Sie was“! Es war dieses Credo gepaart mit einer zurückhaltenden Führung, welches seine Schüler zur wissenschaftlichen Tätigkeit anregte, wissenschaftliche Breite unter Einschluss damals abseits vom „Mainstream“ gelegener Forschungsfelder wie etwa der Regeneration des Nervus opticus oder der Geschichte der Augenheilkunde ermöglichte und zu zahlreichen Habilitationen sowie einer Lehrstuhlbesetzung führte. 1993/94 war Thiel Präsident der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG). Darüber hinaus war er für einige Jahre Direktor des Universitäts-Klinikums. 

Hans-Jürgen Thiel war ein sehr verständnisvoller Chef, unter dem man gern und ganz freiwillig viel arbeitete. Seiner noch von recht strenger Klinik-Hierarchie geprägten Zeit war er insoweit voraus, als er kontrovers-konstruktive Diskussionen und Widerspruch zuließ. Das mag hier und da den Eindruck von „Schwäche“ hervorgerufen haben. In Wirklichkeit war es Größe.

Hans-Jürgen Thiel war vor allem aber auch Mensch. So manches Fest wurde in seinem Haus in der Denzenberghalde mit Klinikmitarbeitern gefeiert, und er musste dann nicht selten in die Tasten seines Cembalos greifen. Bei den alljährlichen Betriebsausflügen sah man ihn nicht selten mit einem Bierglas in der Hand. Er war Ehemann, Vater von 3 Kindern – alle Mediziner, eines Ophthalmologe – und Großvater von mehreren Enkeln. Seine Schülerinnen und Schüler werden ihn in dankbarer Erinnerung behalten.