Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2021: Leute

Ein Genie des offenen Zuhörens und des verständnisvollen Antwortens

Zum Tod von Professor Dr. Christoph Schwöbel ein Nachruf des Departements für Systematische Theologie

Am Abend des 18. September 2021 ist der renommierte evangelische Theologe Christoph Schwöbel im Alter von 66 Jahren im schottischen St Andrews, an deren traditionsreicher Universität er seit 2018 als Professor für Systematische Theologie wirkte, unerwartet verstorben. Mit ihm verliert das Fach Systematische Theologie eine ihrer herausragenden, national wie international hoch anerkannten Persönlichkeiten. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen trauert um Christoph Schwöbel und ist zugleich stolz und dankbar, dass er von 2004 bis 2018 als Inhaber des Lehrstuhls für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie seine außerordentlichen Fähigkeiten und Erfahrungen in den Dienst der Tübinger Fakultät gestellt und damit eine große Tradition glänzend fortgesetzt hat.

Am 19.2.1955 in Frankfurt a.M. geboren, wurde er nach dem Studium der evangelischen Theologie und Philosophie 1978 mit einer Dissertation über Martin Rade, einen der Hauptvertreter des Kulturprotestantismus, in Marburg promoviert, wo er als Assistent von C. H. Ratschow seine universitäre Laufbahn begann (1981–1986). Es folgte eine siebenjährige Tätigkeit als Dozent für Systematische Theologie am King’s College der Universität London und als Gründungsdirektor des dortigen Research Institute in Systematic Theology (1986–1993), eine Zeit, in der er seine einzigartigen Kontakte zu führenden Personen und Institutionen der protestantischen Theologie im englischsprachigen Bereich aufbaute. 1990 habilitierte er sich in Marburg mit Studien zum Begriff des „Handelns Gottes“ und kehrte 1993 nach Deutschland zurück, zunächst als Ordinarius für Systematische Theologie in Kiel (1993–1999), danach in Heidelberg (1999–2004) und in Tübingen (2004–2018). Als Ordinarius in Tübingen und als Direktor des dortigen Instituts für Hermeneutik und Dialog der Kulturen war er neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene unermüdlich tätig: International etwa durch den Aufbau und Ausbau von Kooperationen, durch Gastprofessuren, durch weltweite intensive Vortragstätigkeit oder durch die maßgebliche Beteiligung an den Meißener theologischen Gesprächen zwischen der EKD und der Church of England (2004–2009); national u.a. als Mitglied der Kammer für Theologie der EKD (2004–2009), als Mitglied im Fachkollegium „Theologien“ (107) der DFG (2005–2015) und als Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (2008–2011). Auf lokaler Ebene nahm er neben vielem anderen für die Tübinger Fakultät die Aufgaben als Frühprediger an der Tübinger Stiftskirche und als Mitglied im Kirchengemeinderat der Stiftskirchengemeinde wahr.

Christoph Schwöbel verstand Systematische Theologie als hermeneutische Aufgabe und als Beitrag zur Orientierung der Selbstverständigung des Menschen in Kirche und Gesellschaft. Weit entfernt, sich im Selbstzweck eines theologischen Binnendiskurses zu erschöpfen, begründet sein weit gespanntes Oeuvre eine Theologie, die für den Dialog der Kulturen und Religionen eintritt und auf gegenseitiges Verstehen setzt. Ein Gott, der in sich selbst ein Gespräch ist, bildet nach Schwöbel die Grundlage eines qualifizierten Pluralismus, in dem die lernwillige Toleranz gegenüber anders Glaubenden und Denkenden nicht gegen die Wahrheitsansprüche des eigenen Glaubens ausgespielt wird. Damit prägte er Generationen von Studierenden und gab ihnen Orientierung im theologischen Denken und für die späteren Aufgaben des Lehr- und Pfarramtes.

Christoph Schwöbel war ein erstklassiger, vielgefragter Systematischer Theologe und Intellektueller, der sich in allen Höhenlagen seines Faches souverän bewegen konnte. Zudem besaß er eine thematische Spannweite, die ihres Gleichen sucht, eine frappierende Sachkenntnis und Urteilskraft im Gespräch mit anderen theologischen und außertheologischen Fächern, sei es mit den exegetischen Disziplinen oder mit der Philosophie, mit der Literatur- und Musikwissenschaft oder mit der Theologie aus anderen religiösen Traditionen. Seine eigene Stellung im zerklüfteten Feld der Systematischen Theologie bezeichnete er augenzwingend gelegentlich als die eines liberalen Orthodoxen: Auf der einen Seite unterlag er nicht der Versuchung, den Gebildeten unter den Verächtern der Theologie und Religion durch Trivialisierung oder Verabschiedung zentraler Glaubensinhalte artige Zugeständnisse zu machen, sondern fand in diesen Inhalten mehr Vernunft und Weisheit, als sich selbst das eigne Fach oft träumen lässt. Auf der anderen Seite vermied er die Gefahr, die Ergebnisse der eigenen Arbeit mit der Wahrheit selbst zu verwechseln, sondern wusste beides kritisch zu unterscheiden, ohne die theologische Arbeit dadurch zu entwerten. In der Begegnung mit anderen besaß Christoph Schwöbel eine außerordentliche Begabung, die bei seiner Tübinger Antrittsvorlesung vom damaligen Dekan Eilert Herms prägnant auf den Begriff gebracht wurde: „Schwöbel ist ein Genie des offenen Zuhörens und des verständnisvollen Antwortens. Bewundernswert ist [...] insbesondere seine Kunst, auch das kritische Wort ein freundliches Wort sein zu lassen.“ Wir verlieren mit Christoph Schwöbel einen weltweit hoch geschätzten Kollegen, der vielen auch ein Freund war, einen verehrten und beliebten Lehrer, dem in aller Unbeirrtheit der theologischen Reflexion, diese nicht Selbstzweck war, sondern Aufgabe, Zeugnis von dem zu geben, wovon der Glaube nicht lassen kann.