Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2019: Schwerpunkt
Schwerpunkt Cyber Valley: Künstliche Intelligenz und Ethik
Cyber Valley: Vom Pro & Contra zu Prämissen und Konsequenzen
Künstliche Intelligenz (KI) ist eine der Schlüsseltechnologien unserer Zeit. Dennoch sehen laut einer Umfrage vom August 2018 viele Deutsche eher die Risiken als den Nutzen der KI. Auch in Tübingen, Standort der Forschungskooperation Cyber Valley, wird viel über die Vor- und Nachteile rasant wachsenden Technologie diskutiert. Dr. Christopher Gohl vom Weltethos-Institut führt ein in das Schwerpunkt-Thema dieser NL-Ausgabe "Cyber Valley: Künstliche Intelligenz und Ethik".
Schon heute gehört die Tübinger Forschung im Bereich Maschinelles Lernen zur internationalen Spitze. Seit Dezember 2016 soll die Forschungskooperation "Cyber Valley" die Forschung und Lehre zur "Künstlichen Intelligenz (KI)" an den Universitäten Tübingen und Stuttgart sowie am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme noch einmal stärken. Die Partner der Initiative – Landespolitik, Wissenschaft und Unternehmen – versprechen sich davon, Tübingen einerseits als internationales Zentrum für Grundlagenforschung abzusichern. Andererseits soll eine Gründerplattform für marktfähige Anwendungen entstehen.
In Tübingen hat die Initiative seither öffentliche Resonanz erzeugt. Im Sommer 2018 gründeten Studierende und Partner aus der Zivilgesellschaft ein Bündnis "No Cyber Valley". Nach öffentlichen Demonstrationen besetzte sie Anfang Dezember 2018 für mehrere Wochen den Hörsaal 21 des Kupferbaus. Die Besetzung endete kurz vor Weihnachten mit einer Podiumsdiskussion zwischen Vertretern der Universität und Forschern im Bereich Maschinelles Lernen einerseits und Gegnern des Cyber Valley Projekts andererseits. Rund 600 Studierende und Tübinger Bürgerinnen und Bürger nahmen daran teil.
Besonders die Partnerschaft des Cyber Valley-Projekts mit dem Online-Händler Amazon bewegt Kritiker. Der amerikanische Konzern baut ein Forschungszentrum mit bis zu 100 Stellen in Tübingen auf. Als der Tübinger Gemeinderat ebenfalls im Dezember 2018 eine Grundstücksoption für das Forschungszentrum zu behandeln hatte, war die öffentliche Anteilnahme groß, der Protest präsent und das Thema "Cyber Valley" auch im Tübinger Rathaus angekommen.
Mit Studierenden und Bürgerinnen und Bürgern untersuche ich derzeit im Forschungsseminar "Was bedeutet ‚Cyber Valley’ für die Tübinger Demokratie?" am Weltethos-Institut, An-Institut der Universität Tübingen, die Debatten über das Cyber Valley. Wir sind noch mitten in der Untersuchung. Aber bislang entsteht für mich ein Bild recht unterschiedlicher Diskussionen, die es im Fortgang zwischen Stadtgesellschaft und Forschungsgemeinschaft noch besser zu sortieren gilt.
Einerseits ist "Cyber Valley" zur Chiffre für grundlegende Fragen des technologischen Fortschritts geworden. Das sind gesellschaftspolitische Fragen: Führt maschinelles Lernen zur Maschinenherrschaft? Droht der Überwachungskapitalismus? Werden mit den Algorithmen auch gesellschaftliche Normen programmiert oder reproduziert, die wir eigentlich nicht wollen? Gibt es einen "dritten europäischen Weg" der KI zwischen den Technikutopien von Silicon Valley und dem Interesse Chinas an sozialer Kontrolle?
Dem gegenüber stehen Forschungsfragen: Was erforschen wir denn mit Aussicht auf welchen Erfolg? Wie steht es um die Forschungsfreiheit? Damit verwandt sind Fragen der Forschungsorganisation und -finanzierung: Wer entscheidet denn, was beforscht und entwickelt wird? Welche Erwartungen und Nutzungsrechte haben Geldgeber aus der Wirtschaft? Wer gestaltet den Übergang zwischen Grundlagenforschung und wirtschaftlichen Anwendungen wie? Was wiederum die Ethiker auf den Plan ruft: Welche Normen bestimmen die Erforschung "künstlicher Intelligenz", wie können sie wirksam werden, und kann man Maschinen eigentlich auch Ethik beibringen? Und wie können die Sozialwissenschaften die Veränderungen begleiten?
Für die Stadt wiederum stehen (stadt)politische Themen im Vordergrund: Was bedeutet "Cyber Valley" für die Entwicklung des Stadt- und Wohnraums, für die Umwelt, die Infrastruktur, für Arbeitsplätze und den Alltag der Bürgerschaft? Und: Welche Macht- und Kontrolloptionen hat die (Tübinger) Politik eigentlich gegenüber internationalen Konzernen?
In der Vielfalt dieser Fragestellungen, so meine Hypothese, erscheint eine Einteilung der Diskussion und ihrer Protagonisten in "Pro" und "Contra" nicht weiterführend. Vielmehr gilt es, Prämissen und Konsequenzen der Forschungskooperation Cyber Valley in vielfacher Hinsicht aufzuklären, mit der Bereitschaft zur kritischen Intervention. "Cyber Valley" wird dabei auch zur Aufgabe der Sozialwissenschaften. "Cyber Valley" wird also zum Lernprogramm – für die Akademie ebenso wie für die Agora in Tübingen.
Christopher Gohl