Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2019: Studium und Lehre

Auf der Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens: Workshop „Life and Meaning”

Die New Yorker Konzeptkünstlerin Morgan O’Hara zu Gast als „Invited Artist“ an der Universität Tübingen

Warmes Licht fällt durch die Fensterfront des „Atelierraums“ im Schloss Hohentübingen, Schatten werden an die gegenüberliegenden Steinwände geworfen, an denen antike Reliefs hängen. In der Mitte des Raums sind antike Büsten aus Gips aufgereiht. Fünfzehn junge Menschen stehen sich an einer langen Reihe von Tischen gegenüber. Vor ihnen liegt weißes Papier und in beiden Händen halten sie jeweils einen spitzen Bleistift. 

Es ist die zweite Sitzung des Workshops „Life and Meaning“  der New Yorker Konzeptkünstlerin Morgan O’Hara. Sie gibt diesen Workshop im Rahmen des „Invited Artist“-Programms der Universität Tübingen. Mit dem Konzept „Invited Artist“ lädt die Universität jährlich international renommierte und innovative Künstlerinnen und Künstler nach Tübingen, um Studierenden Einblick in die zeitgenössische Kunst unterschiedlicher Kulturkreise zu ermöglichen. Fünfzehn Studierende aus ganz unterschiedlichen Fachbereichen – Philosophie, Biologie, Kunstgeschichte – nehmen an dem Workshop teil. Fünf Mal so viele Interessierte hatten sich beworben.

„Scribbling“ als grundlegende menschliche Kommunikation

„They are scribbeling“, kommentiert Morgan O’Hara die Szene. Die Studierenden „kritzeln“ mit beiden Händen gleichzeitig auf weißem Papier. „Nur so werden beide Gehirnhälften aktiviert“, sagt die Künstlerin. „Das „Scribbling“ ist grundlegende menschliche Kommunikation. Kinder überall auf der Welt „kritzeln“ am Anfang auf die gleiche Art und Weise, bis sie anfangen, Menschen und Häuser zu zeichnen. Durch die Technik des „scribbling“ werden Erinnerungen, Assoziationen und Gefühle aus der Kindheit geweckt. Es öffnet Menschen. Zudem hat keiner der Studierenden eine künstlerische Ausbildung, daher ist es sinnvoll, damit zu beginnen“, erklärt O’Hara. Die Teilnehmer arbeiten wie O’Hara selbst nur mit Bleistift und Papier.

Es herrscht eine entspannte und vertraute Atmosphäre im Raum. Die Studierenden hatten die Hausaufgabe, ihr Leben zu reflektieren und eine „life timeline“ aufzuzeichnen. In diese „timeline“, eine Art Zeitstrahl, sollten sie Ereignisse einzeichnen, die sie in ihrem Leben maßgeblich geprägt haben. Zu Beginn dieser Kursstunde haben sich die Studierenden ihre „timelines“ in Zweiergruppen vorgestellt und sich dazu gegenseitig Fragen gestellt – der Atelierraum als sicherer Ort für die Lebensgeschichte der Studierenden, ihre Gefühle und Wünsche. Für die kommenden Sitzungen sollen die Teilnehmer auch ihre Ziele für die Zukunft in ihre „timelines“ miteinbeziehen. 

Nach dem „scribbling“ stellt O'Hara den Teilnehmenden die Frage, was sie in diesem Kurs machen? „Wir bringen unsere Emotionen direkt auf das weiße Blatt Papier“, sagt eine Kursteilnehmerin. „Wir beschäftigen uns mit den Grundlagen der Kunst“, so ein anderer Student. „Wir sind auf der Suche nach uns selbst und nutzen für diese Suche die Kunst und ihre verschiedenen Techniken“, fasst ein Student zusammen. 

Über das eigene Leben nachdenken und Verantwortung übernehmen

„Ich versuche seit vielen Jahren, den Sinn meines eigenen Lebens zu verstehen, dabei hat mir die Kunst geholfen“, sagt O’Hara. „Die Studierenden sollen hier einen eigenen künstlerischen Weg finden, ihr Leben zu visualisieren. Der Workshop basiert auf dem Mut jedes Einzelnen, sein eigenes Leben zu betrachten, um seine Bedeutung zu verstehen. Ich hoffe, dass sie im Kurs Orientierung für ihren Lebensweg gewinnen“, so O’Hara. „Es gibt gerade überall Probleme auf der Welt, das Pendel schwingt immer mehr nach rechts. Deshalb spreche ich mit den Studierenden. Ich möchte ihnen Werkzeuge an die Hand geben, um mit ihrem Leben zu arbeiten und aufgeschlossen zu bleiben. Es geht darum, über das eigene Leben nachzudenken und Verantwortung zu übernehmen.“

Am Ende verrät O’Hara noch: „Wir haben vielleicht die Möglichkeit 2020 im Museum der Universität Tübingen MUT die Arbeiten aus diesem Workshop in einer eigenen Ausstellung zu präsentieren. Dann werde ich nochmal nach Tübingen kommen.“

Alisa Koch

"Handwriting the Constitution" auf Schloss Hohentübingen am 23. Juli 2019

"Handwriting the Constitution"

Am 23. Juli 2019 lud Morgan O’Hara die Studierenden und die Tübinger Bevölkerung zur Aktion "Handwriting the Constitution" auf das Schloss Hohentübingen ein. Gemeinsam schrieben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dabei das Grundgesetz, die amerikanische Verfassung und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte handschriftlich auf.

Als die Amtseinführung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump näherrückte, entstand O'Haras Idee, als einen Akt des friedlichen Protests die US-Verfassung von Hand zu kopieren. „Ich konnte es nicht ertragen, dass Donald Trump zum Präsident der USA gewählt wurde. Am 20. Januar 2017 wachte ich morgens auf und hatte die Idee, die Verfassung abzuschreiben. Während Trump vereidigt wurde, schrieb ich in der New York Public Library die Verfassung ab – Wort für Wort. Es fühlte sich gut an, also beschloss ich diese Aktion jeden Monat am selben Ort zu wiederholen“, erzählt die Künstlerin. Was als private Aktion begann, entwickelte sich zu einer globalen Veranstaltungsreihe. Bis heute hat O’Hara 108 dieser Sessions mit 1.500 Personen weltweit initiiert und veranstaltet.

Konzeptkünstlerin Morgan O’Hara zu Gast als „Invited Artist“

Morgan O’Hara, geboren in Los Angeles und aufgewachsen in Japan, lebt heute in New York. „Ich habe einen amerikanischen Pass, aber mein Herz ist international“, so O’Hara. Als Konzeptkünstlerin hat sie sich dem performativen Zeichnen und sozialer Praxis verschrieben. Bei sogenannten „Live Transmissions“ zeichnet sie mit beiden Händen gleichzeitig und in Echtzeit wie ein Seismograph Bewegungen und Geräusche auf.

Das Konzept des „Invited Artist“ hat zum Ziel, die Studierenden in die Kunst und ihre Traditionen einzuführen, wobei der Blick auf die Besonderheiten in verschiedenen Kulturen gerichtet werden soll. Das neuartige Konzept, das Kreativität, künstlerisches Verständnis und kulturelle Diversität fördern soll, richtet sich an Studierende aller Fakultäten. Morgan O’Hara ist die zweite Künstlerin, die als Invited Artist nach Tübingen kommt. Im Sommer 2018 führte der Fotokünstler Mohammad Ghazali aus Teheran zwei Workshops mit Tübinger Studierenden durch und konzipierte die Ausstellung „Ich kann nicht nichtschön sein“ für das Museum der Universität mit. In diesem Rahmen erschien auch der erste Band einer neuen Publikationsreihe der Universität, „Invited Artist“.