Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2021: Forschung

Wenn Schweden einen Lockdown verhängt hätte: 75 Prozent weniger Infektionen, 38 Prozent weniger Todesfälle

Tübinger Ökonomen haben analysiert, wie sich ein Lockdown in Schweden auf das Infektionsgeschehen ausgewirkt hätte

Im Gegensatz zu den meisten Ländern hat Schweden während der ersten Corona-Welle im ersten Halbjahr 2020 einen vielbeachteten und diskutierten Sonderweg gewählt und keinen Lockdown verhängt. Die Tübinger Wirtschaftswissenschaftler Alexander Dietrich und Gernot Müller vom Lehrstuhl für Geld und Währung haben den Fall Schweden zusammen mit Benjamin Born von der Frankfurt School of Finance & Management in einer Studie genauer untersucht. Sie wollten herausfinden, wie sich ein Lockdown dort auf die Ausbreitung der Infektionen, die Anzahl der Todesfälle und die wirtschaftliche Entwicklung ausgewirkt hätte. Für den Vergleich mit der tatsächlichen Entwicklung in Schweden entwickelten die Autoren mittels der synthetische Kontrollmethode einen „Doppelgänger“: ein kontrafaktisches Szenario „Schweden mit Lockdown“. Die Autoren kommen auf Grundlage der dabei ausgewerteten Daten bis einschließlich 1. September 2020 zu dem Ergebnis, dass ein Lockdown in Schweden die Anzahl der COVID-19-Infektionen und auch die Anzahl der durch COVID-19 bedingten Todesfälle deutlich verringert hätte. Die Studie erschien im April 2021 in der Fachzeitschrift PLoS ONE.

Was sind die wichtigsten Ergebnisse Ihrer Studie?

Unsere Studie zeigt, dass ein Lockdown in Schweden im untersuchten Zeitraum von Frühjahr bis Herbst 2020 die Anzahl der Infektionen um 75 Prozent und die Anzahl der Todesfälle um 38 Prozent reduziert hätte. Das wären 2.000 Tote weniger bis Ende August 2020 gewesen.

Bei den Infektionen beginnt sich der Effekt aber erst mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen nach dem Beginn des Lockdowns zu zeigen, bei den Todesfällen entsprechend noch später. Das ist insofern bemerkenswert, als die Methode vor allem die kurzfristigen Effekte gut abschätzen kann. Mit fortschreitender Zeit können auch andere Faktoren als der verhängte Lockdown eine Rolle spielen.

Ein weiteres Ergebnis: Die ökonomischen Kosten eines Lockdowns wären in Schweden relativ gering ausgefallen. Wir haben dazu die wirtschaftliche Entwicklung für Schweden und den synthetischen Doppelgänger verglichen – gemessen an der Veränderung des Bruttoinlandsprodukts. Wir haben zwei Erklärungen hierfür: Zum einen ist die schwedische Wirtschaftsleistung auch ohne Lockdown signifikant zurückgegangen, denn Schwedens Wirtschaft ist nicht autonom, sondern eng verzahnt mit der Weltwirtschaft. Ein Lockdown hätte diesen Rückgang nur geringfügig verstärkt. Der zweite Erklärungsansatz hat mit Verhaltensanpassungen zu tun und ist für uns Ökonomen daher besonders interessant: Anhand der Auswertung von Google COVID-19 Community Mobility Reports konnten wir feststellen, dass die Schweden auch ohne Lockdown ihr Verhalten freiwillig angepasst und ihre Kontakte reduziert haben. Auch dies hat die Wirtschaftsleistung Schwedens reduziert, so dass der zusätzliche Effekt durch einen echten Lockdown ebenfalls gering ausgefallen wäre.

Welche Faktoren haben Sie bei der Konstruktion des Doppelgängers im Modell verwendet? 

Wir haben auf Basis einer Referenzgruppe von 13 vergleichbaren europäischen Ländern einen synthetischen Doppelgänger für Schweden entwickelt – ein kontrafaktisches Szenarium „Schweden mit Lockdown“. Dabei haben wir ein einfaches statistisches Verfahren gewählt: die synthetische Kontrollmethode (synthetic control), die in den Sozialwissenschaften sehr häufig eingesetzt wird. Zum Stichtag 1 muss dieser Doppelgänger genau dieselbe Ausgangssituation wie Schweden besitzen. „Tag 1“ bezeichnet in unserer Studie den Tag, an dem in einem Land mindestens eine Person pro einer Million Einwohner infiziert war. 

Die wichtigsten Faktoren bei der Erstellung unseres Doppelgängers waren das Infektionsgeschehen in den ersten dreizehn Tagen nach „Tag 1“, die Ländergröße (Einwohnerzahl), die Bevölkerungsdichte (Urbanitätsquote) und die Demografie: wie hoch ist der Bevölkerungsanteil von Menschen über 65 Jahren? So setzt sich unser Doppelgänger im Ergebnis aus den folgenden Ländern der Referenzgruppe zusammen: 30,0% Dänemark, 25,8% Niederlande, 25,3% Finnland, 15,0% Norwegen und 3,9% Spanien. Anschließend konnten wir die Entwicklung der Infektionszahlen und der Todesfälle für Schweden und das kontrafaktische Szenarium vergleichen. 

Warum haben Sie in einer Variante auf die Infektionszahlen und parallel in der anderen auf die Todesfälle abgehoben?

Die Gutachter von PLoS ONE wollten zunächst, dass wir den demografischen Aspekt in unsere Studie mit aufnehmen, damit unser synthetischer Doppelgänger auch in Bezug auf die vulnerable Gruppe der über 65-jährigen möglichst aussagekräftig ist. Der zweite Kritikpunkt der Gutachter war, dass die genaue Anzahl der Infektionen schwierig zu ermitteln ist, da sie in Abhängigkeit von der Anzahl von Tests steht. Deswegen haben wir auf ihren Vorschlag hin ein alternatives Szenario mit der Fokussierung auf die Todeszahlen erstellt. Hier ändert sich zwar die Zusammensetzung des Doppelgängers, aber die grundlegenden Ergebnisse der beiden Ansätze sind – was die Wirkung des Lockdowns angeht – sehr dicht beieinander.

Inwieweit können Sie daraus generelle Aussagen über die Wirksamkeit eines Lockdowns ableiten?

Unsere Studie zeigt, dass ein Lockdown ein geeignetes Mittel zur Eindämmung eines Infektionsgeschehens ist. 

Der Lockdown ist aber kein Wundermittel für schnelle Effekte. Die Effekte zeigen sich vielmehr erst mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen. Wir hatten Ende Oktober 2020 in Deutschland die Diskussion über einen sogenannten „Wellenbrecher-Lockdown“, einen kurzen harten Lockdown zum Stoppen des Infektionsgeschehens. Unsere Analyse spricht gegen die Wirkung eines solchen Wellenbrecher-Lockdowns, das kontrafaktorische Szenario für Schweden legt vielmehr einen längeren Lockdown von acht bis zehn Wochen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens nahe.

Nicht berücksichtigt wurden in unserer Studie die sozialen Kosten eines Lockdowns, diese müsste man gesondert abwägen.

Planen sie die Fortsetzung der Studie bzw. weitere Studien?

In einem neuen Projekt zum Thema Lockdown schauen wir – allerdings mit anderen Methoden –, wie sich der Lockdown auf die sogenannte case fatality rate auswirkt, also den Anteil der Personen mit einer COVID-19-Erkrankung, die an dieser Erkrankung sterben. Dazu haben wir sowohl europäische Länder als auch US-amerikanische Bundesstaaten untereinander verglichen. Die ersten Ergebnisse weisen darauf hin, dass die case fatality rate durch einen Lockdown sogar noch ansteigt, obwohl gleichzeitig die absolute Anzahl der an COVID-19-Infizierten und -Verstorbenen sinkt. 

In einer weiteren Studie zum Thema „Öffnen unter Sicherheit“ untersuchen wir gemeinsam mit meinem Kollegen Professor Klaus Wälde von der Universität Mainz das „Tübinger Modell“, das im Frühjahr bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat.

Das Interview mit Gernot Müller führte Maximilian von Platen.

Studie "The lockdown effect: A counterfactual for Sweden."

Benjamin Born, Alexander Dietrich, Gernot Müller GJ: The lockdown effect: A counterfactual for Sweden. In : PLoS ONE 16(4): e0249732. April 8, 2021. https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0249732