10/2003 – 02/2010 | Studium der Vergleichenden Religionswissenschaft Judaistik und Orientalistik (M.A.) Goethe-Universität Frankfurt am Main |
04/2010 – 08/2010 | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Judaistik Goethe-Universität Frankfurt am Main |
seit 04/2011 | Doktorandin im Graduiertenkolleg 1662 „Religiöses Wissen“ Eberhard-Karls-Universität Tübingen |
Das Promotionsvorhaben untersucht die Entwicklung und Anwendung, die Diskussion und den Transfer des Religionsgesetzes innerhalb der deutschen jüdischen Gemeinden der Frühneuzeit. Die Vertreibungen der Juden Mitteleuropas im 14. und 15. Jahrhundert führten zu einer Verlagerung der Schwerpunkte jüdischen Lebens. Der Strom der Exulanten richtete sich in vom Islam beherrschte Länder, nach Nordafrika und in das Osmanische Reich, nach Italien sowie Polen-Litauen. Der Beginn der Migrationsbewegungen für die deutschen Juden durch die große Verfolgungswelle zur Zeit der Pest (1348-50) führte zu zahlreichen Ausweisungen der Juden aus fast allen Reichsstädten und zahlreichen Territorien, Ausnahmen bildeten Frankfurt, Worms, Friedberg und Prag. Zahlenmäßig am bedeutsamsten waren die Vertreibungen aus den Städten, die sich mit 334 Fällen auf das gesamte Spätmittelalter verteilen. Die fortschreitenden Vertreibungen aus den traditionsreichen städtischen Zentren jüdischen Lebens führten zu einer starken Abwanderung der deutschen Juden nach Norditalien und verstärkt nach Polen-Litauen, wo es seit langem traditionsreiche jüdische Gemeinden unter dem Schutz des Königtums gab. Die in Deutschland verbleibende jüdische Bevölkerung fand sich zunehmend in Existenznischen in vorwiegend ländliches Milieu abgedrängt. Durch die verstärkte Verländlichung der jüdischen Siedlungen im 16. Jahrhundert brach das Leben in der Gemeinde vielerorts weitgehend zusammen, da der typographische Siedlungszusammenhang eines Judenviertels um Synagoge und Mikwe nicht mehr gegeben war. Die Responsenliteratur, die Sammlungen der Rechtsgutachten der Gelehrten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, geben immer wieder bezeichnenden Einblick in eine Situation der Zerstreuung und Vereinzelung, in der eine Lebensführung in Übereinstimmung mit der jüdischen Religion nur schwer möglich war, sie lassen aber gleichzeitig in eindrucksvoller Weise das Bemühen erkennen, selbst unter widrigen Umständen den Geboten der Religion zu entsprechen. Das Bild der religiösen Observanz der jüdischen frühneuzeitlichen Bevölkerung erweist sich somit als überaus uneinheitlich. So finden sich Belege für eine unbekümmerte Unkenntnis und Missachtung der religiösen Lehre ebenso wie von deren fundierte Kenntnis und penible Einhaltung. Nicht zuletzt finden sich Hinweise auf eine Adaption an die jeweiligen Umstände, Notwendigkeiten und Bedürfnisse der Menschen, welche in der religiösen Praxis ihren Ausdruck findet.
Bei dieser Untersuchung von Transformation und Anpassung religiösen Wissens ist zu erwarten, dass die in diesem Kontext untersuchte religiöse Praxis das defizitäre Wissen der frühneuzeitlichen jüdischen Geistes- und Religionsgeschichte der deutschen Juden um wichtige Aspekte erweitern wird, insbesondere die Kenntnis über die gelebte Religion. Es ist geplant, das Spannungsverhältnis zwischen der Religionspraxis und des normativen Religionsgesetzes an einzelnen, exemplarischen Fällen aus unterschiedlichen Bereichen des alltäglichen Lebens zu betrachten. Da in Deutschland für das religiöse Leben neben der Halakha das gerade hier stark verwurzelte und örtlich sehr verschiedene Brauchtum (Minhag) bezeichnend ist, gilt es auch hier das Verhältnis zwischen Halakha, Minhag und Religionspraxis zu bestimmen. Gleichzeitig dürfen die Querverbindung insbesondere zu den Gelehrten in Polen-Litauen, welche maßgeblich auch die deutsche Gelehrsamkeit beeinflusst haben, nicht aus den Augen verloren werden. Es scheint, dass gerade die Dominanz der polnischen Tradition das Ansehen der eigenen religiösen Praxis in Deutschland erhöhte. Zudem soll das Verhältnis zur christlichen Religionspraxis zeitgenössischer Christen exemplarisch untersucht werden.