Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2025: Forschung

Wechseljahre, Menstruation, psychische Verfassung von Frauen: Themen, die kein Tabu sein dürfen

Interview mit der Neurowissenschaftlerin und Psychologin Birgit Derntl

Professorin Dr. Birgit Derntl, Neurowissenschaftlerin und Psychologin am Universitätsklinikum Tübingen, plädiert für einen informierten Diskurs zum Thema Frauengesundheit. Im Interview zeigt sie, wie dieser aussehen kann, und gibt Einblicke in ihre Forschung.  

Frau Derntl, woran forschen Sie derzeit? 

Zur psychischen Gesundheit von Frauen in all ihren Facetten. Ich erforsche, wie der Menstruationszyklus und Kontrazeptiva die Stressreaktivität von Frauen verändern, wie sich Brustkrebs auf ihre psychische Verfassung auswirkt, oder auch, wie die Wechseljahre mit der psychischen und der psychosexuellen Gesundheit interagieren. 

Bleiben wir bei den Wechseljahren, die auch im gesellschaftlichen Diskurs zunehmend Beachtung finden. Wie verändert sich die psychosexuelle Gesundheit in dieser Zeit? 

Daten zeigen, dass 80 % der Frauen, die die Wechseljahre durchleben, eine Libidoverringerung oder sogar einen Libidoverlust erleben. Wir erforschen, wie Frauen vor, inmitten oder nach der Menopause auf sexuelle Stimuli in Form von visuell-erotischen Bildern reagieren. Uns interessiert, welche Gruppe wie auf welche Stimuli reagiert. Unsere Untersuchungen zeigen, dass Stimuli, die vor der Menopause als sexuell erregend bewertet werden, nach den Wechseljahren nicht mehr dieselbe sexuelle Erregung auslösen. Mit unserer Forschung möchten wir Frauen ermutigen, ihre wandelnden Bedürfnisse zu kommunizieren und sich von normativen Erwartungen an ihr Lustempfinden zu befreien. Es geht also nicht nur um die Frage, ob Frauen nach den Wechseljahren Lust empfinden, sondern, unter welchen Bedingungen sie Lust empfinden. 

Wo sehen Sie weitere Forschungslücken? 

Definitiv im Bereich der Hormonspirale und psychischer Gesundheit. Weltweit verwenden 160 Millionen Frauen die Hormonspirale, bisherige Studien konzentrierten sich jedoch vor allem auf die körperliche Gesundheit der Frauen – das heißt, wie beispielsweise die Hormonspirale das Risiko, an Thrombose zu erkranken, beeinflusst. Ich möchte jedoch wissen, welche psychischen Nebenwirkungen bei Verwendung der Hormonspirale eintreten können. Mein Team und ich haben weltweit die zweite Studie durchgeführt, die untersucht, wie die Stressreaktivität bei Frauen ausfällt, die die Hormonspirale nehmen. Wir haben Hinweise darauf gefunden, dass die Hormonspirale die Regulation der Stressreaktion beeinflusst – und sie tut dies anders als die Anti-Baby-Pille, die ja auch ein hormonbasiertes Verhütungsmittel darstellt. Hier braucht es auf jeden Fall noch weitere Studien, um einen besseren Einblick zu bekommen, für welche Frau welches Verhütungsmittel die beste und sicherste Wahl darstellt.

Sie zeigen, dass hormonelle Veränderungen konkrete körperliche, psychische und psychosexuelle Auswirkungen haben. Im Alltag hören wir davon wenig. 

Das stimmt. Was wir brauchen, ist ein informierter, transparenter Diskurs über die hormonellen Veränderungen bei Frauen – der alle Geschlechter miteinbezieht. In vielen Kontexten ist dieses Thema noch immer ein Tabu. Wie oft sprechen wir im Arbeitsalltag über die Menstruation oder über prämenstruelle Symptome? Selten bis nie. Vielmehr versuchen die meisten, sich während der Menstruation so wie während der Ovulation zu verhalten – oftmals trotz Krämpfen, Stimmungsschwankungen, Brust- oder Rückenschmerzen. Während der Wechseljahre wird das Verstecken schwieriger: Symptome wie Hitzewallungen, Schweißausbrüche, Herzklopfen oder Schwindel lassen sich schwer überdecken. Wir müssen endlich darüber sprechen, dass das alles natürliche Körperprozesse sind, die nicht mit Scham belegt werden dürfen. 

Geschlechtssensible Medizin ist in vielen medizinischen Bereichen noch die Ausnahme. Wieso orientierte sich die Forschung lange Zeit am cis-männlichen Körper? 

Frauen wurden lange Zeit vom Medizinstudium und der Arbeit an Körpern und Organen ausgeschlossen. Somit wurden auch bestimmte Fragestellungen von vornherein unterbunden. Dazu kommt, dass lange Zeit die Meinung vorherrschte, dass Männer- und Frauenkörper – abgesehen von den Geschlechtsorganen – relativ ähnlich seien. Es wurde angenommen, dass das Gehirn der Frau die kleinere Version des Gehirns des Mannes sei. Als es dann auch noch erste Hinweise darauf gab, dass der Menstruationszyklus Auswirkungen auf das Gehirn hat, wurden Frauen aus Studien ausgeschlossen. Mit der Begründung, die Berücksichtigung des Zyklus sei zu komplex. Auch schwangere Frauen werden nicht zu Studien zugelassen, um das ungeborene Kind zu schützen. Somit erhalten wir eine Datengrundlage, die sich primär auf männlich gelesene Gehirne bezieht. 

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?  

Wir wissen häufig nicht, wie es um die geschlechtsspezifische Wirksamkeit von Medikamenten bestellt ist. Medikamente werden oft vom Markt genommen, weil diese bei Frauen nicht wirken, oder aber, weil Frauen von starken Nebenwirkungen betroffen sind. Die Konsequenz davon ist, dass Frauen manchmal mit einer Verzögerung von zwei bis drei Jahren die richtige medizinische Diagnose erhalten. Mit unserer Forschung wollen wir diesem Missstand entgegentreten.

Sie sind die Sprecherin des internationalen Graduiertenkollegs „Women's Mental Health Across The Reproductive Years“. Welche Vision verbinden Sie mit dem Kolleg? 

Im Graduiertenkolleg, das wir gemeinsam mit unseren schwedischen Partnerinnen und Partnern der Uppsala Universität durchführen, bilden wir gerade eine neue Gruppe an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus, die eine interdisziplinäre Ausbildung in Richtung psychische Gesundheit von Frauen erhalten und auch zu diesem Thema wichtige Forschungsarbeit leisten. Meine Vision ist, dass wir darüber wichtige Daten und Erkenntnisse sammeln und somit eine zentrale Wissenslücke in der Forschung überbrücken werden, indem wir die psychische Gesundheit von Frauen über alle reproduktiven Lebensphasen hinweg in den Fokus rücken. Und es ist meine Überzeugung, dass ich als Wissenschaftlerin auch dafür Verantwortung trage, evidenzbasierte und geschlechtersensible Innovationen im Gesundheitswesen voranzutreiben, gerade an einer Exzellenzuniversität.

Das Interview führte Rebecca Hahn

Zur Person

Prof. Dr. Birgit Derntl leitet die Arbeitsgruppe Psychische Gesundheit und Gehirnfunktion von Frauen, ist Sprecherin des Internationalen Graduiertenkollegs IRTG 2804 und Gleichstellungsbeauftragte der Medizinischen Fakultät. Mehr zu ihrer Forschung erfahren Sie auf der Webseite ihrer Arbeitsgruppe