Im August 2013 verstarb nach längerer Krankheit Prof. Dr. Dezsö Varjú, ehemals Leiter der Abteilung Biokybernetik der Universität Tübingen.
Dezsö Varjú wurde 1932 in Gasztony/Ungarn an der Grenze zum Burgenland geboren. Nach Schulbesuch in Szombathely schloss er 1956 das Physikstudium an der Universität Budapest mit dem Diplom ab. Während des ungarischen Aufstands wurde er verhaftet und flüchtete nach Deutschland.
Durch „zufällige und glückliche Umstände“, wie er selber sagte, geriet er an das berühmte Institut für Physikalische Chemie in Göttingen. Er fand bald die Biologie, hier die Systemanalyse biologischer Reiz-Reaktions-Beziehungen, interessanter als die bisherige Experimentalphysik. Schon 1958 wurde Varjú mit einer Arbeit über Phototropismus und Licht-gesteuertes Wachstum des Algenpilzes Phycomyces in Physik promoviert. Er folgte Werner Reichardt ‒ nach dem jetzt in Tübingen das CIN benannt ist ‒ an die Abteilung „Kybernetik“ des Max-Planck-Instituts für Biologie in Tübingen. 1959/60 arbeitete er über Phycomyces am California Institute of Technology bei Max Delbrück ‒ auch Delbrück hatte als Physiker in Berlin begonnen, war in die USA emigriert und später zur Biologie gekommen.
Varjú erhielt erst einen Ruf nach Köln und 1968 einen Ruf auf einen Lehrstuhl für Zoologie (später „Biokybernetik“) in Tübingen. Seit 1967 war er deutscher Staatsbürger. 1962 heiratete er Heide Agner, eine Enkelin von Wilhelm Singer, der 1910 bis 1946 als Stadtpfleger für die Finanzen der Stadt Tübingen verantwortlich war.
Der neue Zoologe entfaltete eine rege Tätigkeit. Sein Ziel war die Aufklärung der Sinneswahrnehmung und der Verhaltensreaktionen von Organismen und deren Beschreibung durch mathematische und computergestützte Modelle. Sein Lehrbuch der Systemtheorie für Biologen erschien 1977. Die „etablierten“ Labortiere waren Stubenfliege und Mehlkäfer, aber Varjú war fasziniert von der Vielfalt der wirbellosen Tiere. Er erforschte das Sehen von Strandkrabben und Schnecken, den Flug des Taubenschwänzchens, die Kreisbahnen der Taumelkäfer, den Beutefang von Wasserläufern, die erkennen, ob eine Schwingung der Wasseroberfläche von einer zappelnden Fliege herrührt.
Varjú hat Generationen von Tübinger Studenten in sein Forschungsgebiet, die Biokybernetik, zwischen den Neurowissenschaften und der Verhaltensforschung eingeführt, bevor es den Begriff der Neuroethologie überhaupt gab. Einige seiner Schüler arbeiten erfolgreich weiter in diesem Gebiet. Er hatte besonders enge Bindungen nach Australien; dort verbrachte er einige Forschungsaufenthalte. Mehrfach hatte er das Amt des Dekans der biologischen Fakultät inne.
Nach der Emeritierung 1997 hat Varjú seine Einsichten in einem sehr lesbaren Buch allgemein zugänglich gemacht. In „Mit den Ohren sehen und den Beinen hören“ (mit Bezug auf Eulen und Heuschrecken) erklärt er, wie Wespen innerhalb von Minuten einen Erdbeerkuchen entdecken, und vieles andere zu Orientierung und Wanderungen von Tieren. In den letzten Jahren galt sein Interesse der Frage, wie Tiere wie beispielsweise Bienen, Krebse, Fische, Kaulquappen oder Vögel, die Polarisation des Sonnenlichts zur Orientierung nutzen. Die Monographie „Polarized Light and Animal Vision“ mit Gábor Horváth aus Budapest erschien 2003.
Ein Zentrum im Leben von Dezsö und Heide Varjú war ihr Gütle in Kiebingen, wo sie so gern Gastgeber für Freunde und Verwandte waren. Im vorigen Jahr konnten die Eheleute die goldene Hochzeit feiern. Varjús Engagement für Andere spiegelt sich wider in der Stiftung eines Preises für wissenschaftlich begabte Schüler seines Heimatlandes.
Dezsö Varjú wird in Erinnerung bleiben durch seine Arbeiten zum Bewegungssehen der Tiere und zu den Grundlagen der Biokybernetik.