Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2013: Leute
Ein herausragender Hochschullehrer und Wissenschaftler, der vor allem die Tübinger Geisteswissenschaften prägte
Zum Tod von Professor Dr. Walter Jens ein Nachruf von Joachim Knape
Die Universität Tübingen trauert um Walter Jens, einen ihrer herausragenden Hochschullehrer, der neben Persönlichkeiten wie Ernst Bloch oder Hans Küng jahrzehntelang das intellektuelle Profil der Tübinger Hochschule mitprägte, ja, nach außen repräsentierte. Walter Jens war einer der profiliertesten Intellektuellen der Bundesrepublik. Über Jahrzehnte hinweg hat der Tübinger Hochschullehrer in allen wichtigen Debatten Stellung bezogen. Er ist am 9. Juni 2013 im Alter von 90 Jahren nach langer Krankheit gestorben.
Jens war in Tübingen von 1949 bis 1988 akademisch tätig; zunächst als Klassischer Philologe, dann seit 1963 als Professor für Allgemeine Rhetorik. Diese wenigen äußeren Daten sagen wenig über die Strahlkraft und bis heute ungebrochene Wirksamkeit dieses bedeutenden Intellektuellen und Publizisten, den die Zeitschrift Cicero noch in diesem Jahr auf Platz 55 unter den 500 wichtigsten Intellektuellen Deutschlands gesetzt hat, obwohl er durch seine Demenzerkrankung schon lange zum Schweigen verurteilt war.
In den 1950er- und 1960er-Jahren trat Jens zunächst als Schriftsteller und Kritiker in Erscheinung und warf immer wieder die Frage auf, warum das politisch gut überlegte „Nein sagen“ im 20. Jahrhundert nicht zu den deutschen Tugenden gehörte, warum das Land in den Abgrund der Barbarei stürzte, warum der Aufbau des republikanischen Denkens bei uns so schwer war. Später lernte Deutschland Walter Jens als nachdenklichen Gesprächspartner Hans Küngs in den Fragen nach Gott und dem Sinn der Religion kennen. Jens wurde 1976 als Schriftsteller Präsident des deutschen PEN-Zentrums und bald immer mehr zum allseits geachteten Praeceptor Germaniae. Doch nicht nur als ein solcher Lehrer Deutschlands trat er hervor, sondern seit den 1970er-Jahren auch verstärkt als Aktivist in der Friedensbewegung und als kämpferischer Demokrat. Damit sind nur einige wenige Aspekte seines öffentlichen, die Universität übersteigenden Wirkens genannt. Er war Schriftsteller, Kritiker, homme de lettres, aber auch ein konsequenter Demokrat, ein Prediger der Vernunft – ob auf dem Kirchentag, bei den Protesten in Mutlangen oder als Präsident der Akademie der Künste
Jahrzehntelang hat Jens auch das Universitätsleben engagiert mitgestaltet und mitbestimmt. Dafür gilt ihm der tief empfundene Dank der Tübinger Universität: Jens bereicherte die Hochschule durch die Gründung eines Instituts für wissenschaftliche Rhetorikforschung, die in Deutschland bis heute einmalig blieb. Sein Lebensthema ‚Rede und Republik‘, also nach der Rolle der Rhetorik für die Demokratie, fand hier eine institutionelle Gestalt mit einer Universitätseinrichtung, die bis heute äußerst erfolgreich Studierende aus ganz Deutschland anzieht. Jens belebte und öffnete die Universität. Ganz bewusst initiierte er mit Hans Küng das inzwischen zur festen Institution gewordene Studium Generale, in dem Wissenschaft über die Fachgrenzen hinaus im besten Sinne populär gemacht wird – ein Konzept, das seitdem viele andere Universitäten adaptiert haben.
Berühmt wurden auch seine öffentlichen Vorlesungen zur neueren und neuesten Literatur, die im Laufe der Zeit Kultstatus erlangten. Jens inspirierte die Universität, indem er etwa seit 1965 in regelmäßigen Editorials als Redakteur der Universitätszeitschrift Attempto (in dieser Funktion Nachfolger Ralf Dahrendorfs) Kommentare zu hochschulpolitischen Fragen abgab. Er hat das Selbstverständnis und die historische Selbstbewusstheit der Universität Tübingen befeuert und gefestigt. Er trat nach außen bewusst als Botschafter Tübingens auf und scheute sich nach seiner Emeritierung nicht, als Tübinger das schwierige Amt des Gründungspräsidenten der neuen Berliner Akademie der Künste nach der deutschen Wiedervereinigung zu übernehmen. Universitätsintern sah sich Jens als Nachfolger all jener Rhetorikprofessoren, die in 500 Jahren Tübinger universitärer Rhetorikgeschichte auch immer die Hochschul-Schreiber- und -Chronisten waren. Die mit seiner Frau verfasste, identitätsstiftende Tübinger Universitätsgeschichte ‚Eine deutsche Universität‘ von 1977 wurde zum Publikumserfolg. Im Jahr 1997, in seinem Festschriftbeitrag zum 30-jährigen Bestehen des von ihm 1967 gegründeten Tübinger Rhetorikinstituts formuliert Jens als international und weltliterarisch denkender Intellektueller seine Vision für Tübingen als ein Cambridge am Neckar.
Walter Jens hat der Universität Tübingen – und das steht allem voran – einen ungewöhnlichen intellektuellen Glanz gegeben und ihre weit reichende geistige Ausstrahlungskraft befördert. Nie klammerte er sich an ein biederes Professoren-Rollenmodell, sondern ging immer über enge Grenzen hinaus. Er wirkte als Romancier, als Fernsehdramatiker oder Hörspielautor genauso wie als Berater des Deutschen Fußballbundes in einer Zeit, als die Trainer noch reden lernen mussten. Fußball-Lessing schrieb der Spiegel 1983. Hier zeigt sich der Jens, der nach dem Vorbild Luthers dem Volk bewusst aufs Maul schauen wollte. So wurde Jens zu einer öffentlichen Figur, parlierte in Talkshows über Fußball, war aber auch als eine moralische Instanz präsent. Seine späten Texte, die in Zusammenarbeit mit seiner Frau Inge Jens entstanden, etwa „Frau Thomas Mann“, wurden zu Bestsellern und Jens blieb selbst noch während seiner Krankheit eine öffentliche Figur.
Walter Jens hat in der Geschichte der Tübinger Universität längst einen Ehrenplatz eingenommen. Wir würdigen ihn in seinen Leistungen für Deutschland als Tabubrecher, als Grenzüberschreiter, als Inspirator, als Meister der deutschen Sprache, als Wiederbeleber der Antike, als Rhetor, als Demokraten, als Friedensbewegten und spirituellen Kopf. Wir würdigen ihn auch als ungewöhnlichen und kollegialen Professor, als erfolgreichen Hochschullehrer, als Forscher und Institutsgründer. Die Universität Tübingen ist ihm zu großem Dank verpflichtet. Über seinen Tod hinaus wird sein Vermächtnis lebendig bleiben.