Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 1/2015: Leute
Nestorin der Patristik, der Gnosisforschung und der Erforschung des orientalischen Christentums
Zum Tode von Professorin Dr. Luise Abramowski ein Nachruf von Volker Henning Drecoll
Am 3. November 2014 starb Professorin Dr. Luise Abramowski im Alter von 86 Jahren. Mit ihr verloren die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Tübingen und das Fach Patristik eine ihrer herausragendsten Persönlichkeiten. Ihr Name war international bekannt, in der Gnosisforschung ebenso wie in den orientalischen Kirchen. Internationale Anerkennung erreichte ihr Werk schon früh, insbesondere durch die Mitgliedschaft als Corresponding Fellow in der British Academy.
1928 in Ostpreußen geboren, studierte Luise Abramowski nach dem Abitur 1946 an der Kirchlichen Hochschule in Berlin, um drei Semester später nach Bonn zu wechseln. Hier wurde sie nachhaltig von Professor Dr. Ernst Bizer geprägt, insbesondere in ihrer Vorliebe für dogmengeschichtliche Fragen, und durchlief in Bonn einen stetigen Weg als Seminarassistentin, als Doktorandin und Habilitandin, schließlich als außerplanmäßige Professorin und Wissenschaftliche Rätin. Ihre inhaltlichen Interessen knüpften an Interessen ihres Vaters, Rudolf Abramowski, an, der – Pastor der reformierten Gemeinde in Riga – sich neben alttestamentlichen Forschungen mit syrischer Literatur befasste und 1945 auf der Deportation nach Russland verstorben war. Ihre Dissertation und Habilitation stellten die Nestoriusforschung auf eine völlig neue Grundlage, insbesondere durch die literarkritische Scheidung zwischen Eingangsdialog, Corpus und Endredaktor des Liber Heraclidis, der wichtigsten, nur syrisch erhaltenen Quelle für Nestorius (veröffentlicht in der angesehenen Reihe der Subsidia des Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium, 1963). Diverse Arbeiten zum christologischen Streit und der Ausdifferenzierung des östlichen Christentums folgten. Ein 600-seitiges Manuskript zur syrischen Kirchengeschichte für die große, von Alois Grillmeier begründete Reihe „Jesus der Christus im Glauben der Kirche“ wartet noch auf die Publikation. Internationale Kontakte schlugen sich u.a. in der anspruchsvollen Edition einer syrischen Handschrift nieder (zusammen mit Alan E. Goodman, 1972). 1974 nahm Luise Abramowski den Ruf nach Tübingen an, wo sie bis 1995 lehrte. Hier übernahm sie 1980/81 auch das Amt der Prodekanin, 1981/1982 das der Dekanin. Jahrzehntelang die einzige Frau im Kollegium der Fakultät wie in vielen wissenschaftlichen Kontexten ergriff sie das Wort, wenn sie es für nötig hielt, oft mit knappen, sehr treffenden Kommentaren. In der Sache begründetes Selbstbewusstsein und Absehen von der eigenen Person führten zu einem ihr eigenen, konzentrierten Stil und Auftreten.
Von Abramowskis wissenschaftlichen Beiträgen sind viele für die Entwicklung des Faches wichtig geworden, was sich auch in der englischen (von Lionel Wickham übersetzten) Aufsatzsammlung „Formula and Context“ niederschlug. Beiträge wie die zum Streit der Dionyse oder zum Bekenntnis des Gregor Thaumaturgos kennt jeder Patristiker. Wichtige Impulse setzte sie auch für die Gnosisforschung, weil sie früh der Konzentration auf die Nag Hammadi-Traktate widersprach, etwa durch Analyse des Sonderguts bei Hippolyt (in der zweiten der „Drei christologischen Untersuchungen“ von 1981) oder durch ihre Beiträge zu den römischen Gnostikern und Marius Victorinus – Positionen, die seit einiger Zeit zunehmend Forschungstendenzen in der Gnosisforschung entsprechen.
Zwei Dinge zeichnen ihren unverwechselbaren wissenschaftlichen Stil aus: Luise Abramowski setzt beim Text und seinen Details an, oft bei Texten, die bisher wenig oder kaum traktiert worden sind. Aus einer Fülle von Einzelbeobachtungen baut sich dann eine umfassende, oft Grundprobleme der jeweiligen Zeit neu deutende Perspektive auf. Die Texte werden dabei eher vorausgesetzt als dargestellt. Konzentriert und dicht leiten ihre Aufsätze zum gründlichen Durcharbeiten von Texten an. Zudem: Bei der Lektüre sieht (und hört) man gleichsam die Forscherin vor sich, die von ihren Entdeckungen berichtet, Schlussfolgerungen zieht, (bisweilen wagemutige) Hypothesen wagt. In einer besonderen, stilsicheren Weise werden persönliche Einschätzungen, erreichte Resultate und andere Forschungspositionen miteinander verflochten. Neben patristischen Beiträgen hat sie immer wieder auch auf das Feld der neutestamentlichen Wissenschaft ausgegriffen (etwa durch die Deutung des „Raubes“ aus Phil 2,9 als „Entrückung“) und sich mit mittelalterlicher Kirchengeschichte beschäftigt. Ihre Lehrveranstaltungen, unter anderem auch zu Luther, waren in herausragender Weise forschungsbasiert und entsprechend anspruchsvoll. Die beiden Assistenten aus Tübinger Zeit, Professor Dr. Hanns Christof Brennecke und Professor Dr. Christoph Markschies, sind rasch zu wichtigen Vertretern ihres Faches geworden.
Schwere Krankheit hat die letzten Monate im diesseitigen Leben der Kollegin, die bis zum Schluss am Leben der Fakultät lebhaften Anteil nahm, überschattet. Luise Abramowskis geistige Präsenz und ihr spezifischer Humor bleiben allen, die sie kennenlernen durften, in bester Erinnerung. Ihre besondere Gabe, junge Nachwuchswissenschaftler auch für schwierige Forschungsfelder zu interessieren und auf ihrem Weg zu begleiten, prägen die Patristik und besonders die Beschäftigung mit dem syrischen Christentum nachhaltig und weit über ihren Tod hinaus.