Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2016: Leute

„Vollslavistin“ alten Typs und erste Prorektorin der Universität Tübingen

Zum Tode von Professorin Dr. Ilse Kunert ein Nachruf von Rolf-Dieter Kluge

Am 22. Mai 2016 ist Ilse Kunert, geb. Kamm, im Alter von 93 Jahren in München verstorben. In Bromberg (polnisch: Bydgoszcz) am 12. März 1923 geboren, besuchte Kunert in Danzig (Gdan'sk) das Gymnasium und wuchs im Grenzraum deutsch-polnischer Begegnungen auf, wo ihr von frühester Jugend an auch die polnische Sprache und Wesensart vertraut waren. Daher verwundert es nicht, dass sie nach dem Abitur noch während des zweiten Weltkriegs in Berlin das Studium der Slavistik und Osteuropäischen Geschichte aufnahm, das sie – nach (nach)kriegsbedingter Unterbrechung – in München 1955 mit der Promotion bei Professor Dr. Alois Schmaus abschloss. Ihre Dissertation: „J(ulian) U(rsyn) Niemcewicz: Śpiewy historyczne. Geschichtsauffassung und -darstellung“ ist 1968 als Band 28 der von Schmaus begründeten „Slavistischen Beiträge“ erschienen. In dieser Arbeit unterzieht sie die „historischen Lieder“ einer strengen literatur- und geschichtswissenschaftlichen Kritik, misst ihnen nur geringen literarischen Wert bei, gleichwohl hebt sie ihre ungeheure pädagogisch-patriotische Wirkung in der Rezeption besonders durch die polnische Jugend hervor „im Kampf um die Erhaltung von [polnischer] Sprache und Nation“ in der Zeit unmittelbar nach der dritten Teilung Polens. In den Jahren 1809–1812 entstanden, mit Kupferstichen illustriert und Melodien versehen, sind diese im Auftrag des Towarzystwo Przyjaciół Nauk verfassten „Gesänge“ zu größter Popularität gelangt und haben als obligatorische Schullektüre bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts das nationale Gedächtnis der Polen wachgehalten. In einer Reihe von weiteren Publikationen zu polonistischen Themen hat Ilse Kunert sowohl literatur- als auch sprachwissenschaftliche Fragen behandelt; in der verdienstvollen „Kleinen Slavischen Biographie“ hat sie die polnischen Stichworte verfasst, in Kindlers Literatur Lexikon die Niemcewicz betreffenden Artikel.

Als Assistentin von Erwin Koschmieder wandte sie sich dann verstärkt der sprachwissenschaftlichen Slavistik zu, sowohl dem Altkirchenslavischen als auch dem Russischen, wobei sich ihre Interessen nicht nur auf historische Aspekte, sondern insbesondere auf aktuelle Sprachentwicklungen richteten. Als eine der ersten westdeutschen Stipendiatinnen konnte Ilse Kunert im Rahmen eines deutsch-sowjetischen Kulturabkommens 1960 für zehn Monate in Moskau am Institut für russische Sprache der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften (AN SSSR) im Kontakt zu R.I. Avanesov (1902–1982) und V.V. Vinogradov (1895–1969) über „Veränderungsprozesse und Entwicklungstendenzen im heutigen Russisch“, so der Titel der 1968 bei Harrassowitz erschienenen Habilitationsschrift, forschen. Es gelang ihr der Nachweis, dass auch (synchrone) sprachliche Systeme sich wandeln und diese Vorgänge von systemimmanenten Kräften gelenkt werden. Fremdeinflüsse auf das Russisch der 1960er-Jahre waren (sind) das Eindringen der Fachsprachen in die Umgangssprache und davon ausgelöst neue Wortbildungstypen (Kurzwörter, Abbreviaturen...) mit dem Streben nach möglichst genauer Differenzierung und (semantischer) Komprimierung; bei Neubildungen oder der Adaption neuer Elemente werden z.B. Palatalitätskorrelation und Morphologisierung des beweglichen Akzents (in der Flexion) besonders wirksam.

Ein Jahr nach ihrer Habilitation erhielt Ilse Kunert zum Wintersemester 1968/69 einen Ruf auf den Lehrstuhl für slavische Sprachwissenschaft an der Universität Tübingen. Hier erweiterte sie das bisher auf das Russische und Altkirchenslavische konzentrierte Spektrum der Slavistik um die Polonistik, die sie mit einem vollen Lektorat zum gleichwertigen Studiengang neben der Russistik ausbaute. In den 44 Semestern ihrer Tübinger Lehr- und Forschungstätigkeit hat sie in gleicher Gewichtung sprach- wie literatur- und kulturwissenschaftliche Bereiche berücksichtigt, noch im Jahr ihrer Emeritierung hat sie im April 1991 in Tübingen die dritte deutsch-polnische Polonistenkonferenz über „Fragen der polnischen Kultur im 18. Jahrhundert. Vom Barock zur Aufklärung“ veranstaltet.

Dem Vorbild ihrer akademischen Lehrer Koschmieder und Schmaus folgend hat Ilse Kunert noch als „Vollslavistin“ alten Typs slavische Sprach- und Literaturwissenschaft als sich ergänzende Bestandteile einer einheitlichen philologischen Disziplin vertreten und dabei stets auf die gleichgewichtige Berücksichtigung mehrerer slavischer Sprach- und Kulturräume gedrungen. Der fortschreitenden Ausdifferenzierung ihres Faches stand sie eher zurückhaltend-skeptisch gegenüber. Das bedeutete jedoch keineswegs Abschottung gegenüber den wissenschaftsorganisatorischen und hochschulpolitischen Wandlungen und Reformen seit Mitte der 1960er-Jahre.

Noch an die alte große Philosophische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen berufen, wurde sie schon anderthalb Jahre nach ihrer Amtsübernahme zur ersten Prodekanin und 1970 /71 zur ersten Dekanin des neu geschaffenen Fachbereichs - der späteren Fakultät - Neuphilologie gewählt, der in einem neuen Gebäude mit neuen Seminar- und Verwaltungseinheiten und einer gemeinsamen Fakultätsbibliothek sich unter ihrer Führung allmählich zu einer funktionierenden Einheit konsolidierte.

Als erste Professorin der Universität Tübingen und als erste Slavistin wurde Ilse Kunert 1971 zur ersten Prorektorin in der über 500-jährigen Geschichte dieser Hochschule gewählt. Nach der Universitätsreform übernahm sie das Amt einer Vizepräsidentin, in das sie bis 1979 vom Senat mehrere Male wieder gewählt wurde. Von 1972 bis 1977 war sie zugleich auch mehrfach wieder gewählte Vizepräsidentin der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Hier oblag es ihr, die internationalen Beziehungen der Hochschulen der Bundesrepublik in aller Welt zu vertreten und weiter zu entwickeln. Der Glanz und das Ansehen dieser hohen Ämter haben auch der Neuphilologischen Fakultät und dem Slavischen Seminar großen Nutzen gebracht. Durch ihre internationale Erfahrung konnten Kontakte geknüpft, befestigt und vertieft werden wie etwa der 1978 geschlossene Partnerschaftsvertrag mit der Universität Warschau, die erste offizielle deutsch-polnische Hochschulpartnerschaft seit 1945.

Bis zu ihrer Emeritierung hat sich Ilse Kunert ununterbrochen in der Hochschulselbstverwaltung engagiert: als Mitglied in Senat, Verwaltungsrat und Fakultätsrat, als Seminardirektorin, Vorsitzende verschiedener Kommissionen und Senatsbeauftragte für die Zusammenarbeit mit der Universität Warschau.

Nach ihrer Emeritierung brachte Ilse Kunert als Mitglied des von 1991 bis 1993 amtierenden Gründungssenats die Wiedergründung Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder wesentlich mit auf den Weg und hat maßgeblich den Osteuropa-Bezug dieser Universität geprägt.

Ilse Kunert hat in mustergültiger Weise akademische Lehre, Forschung und gesellschaftliches Engagement verbunden. Ihr Wirken wird in ehrender Erinnerung bleiben.