Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2020: Leute

Ein Leben nicht nur für die Biologie

Zum Tod von Professor Dr. Wilhelm Sauer ein Nachruf von Mike Thiv, Michael Koltzenburg, Vera Hemleben, Matthias Schlee, Anke Schumacher

Ein Leben für die Wissenschaft, Forschung und Lehre ist zu Ende gegangen: Professor Dr. Wilhelm Sauer, ein ausgewiesener Kenner der heimischen und fremdländischen Flora, ein weitgereister Professor für pflanzliche Systematik, Karyologie und Geobotanik an der Universität Tübingen verstarb am 13. März 2020 im Alter von 85 Jahren.

Seine Kindheit verbrachte Wilhelm Sauer in Oberösterreich, im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet. In Burghausen in Oberbayern besuchte er das Gymnasium und legte 1955 seine Matura ab. Bereits zu dieser Zeit zeigte er ein intensives Interesse für die Naturkunde in ihrer gesamten Breite. Insbesondere widmete er sich damals der Insektenkunde, welche schon seinen Vater begeisterte.

Wilhelm Sauer studierte an der Karl-Franzens-Universität Graz das Fach "Naturgeschichte", heute mit der Biologie vergleichbar. In dieser Zeit verlegte er seine Schwerpunkte auf die Botanik. Sein Studium schloss er 1963 mit einer Promotion bei Professor Dr. Felix Joseph Widder über den Formenkreis der Steirischen Nabelmiere, einem Nelkengewächs, ab. In den 1960er-Jahren arbeitete Wilhelm Sauer als Gymnasiallehrer in der Steiermark und in Heilbronn (Baden-Württemberg). An der Universität Graz war Wilhelm Sauer ab 1967 als Assistent tätig, wissenschaftlich beschäftigte er sich hier mit der Evolution von Chromosomen Höherer Pflanzen. 1969 wechselte Wilhelm Sauer an die Universität München und habilitierte sich 1974 mit einer Schrift zur Evolution der Lungenkräuter. Er untersuchte die Chromosomenzahlen und -strukturen und konnte so Hypothesen zur Phylogenie aufstellen sowie etliche neue Arten und eine Gattung beschreiben. Wilhelm Sauer arbeitete nach der Habilitation als Hochschuldozent in München und wurde dort im Herbst 1980 zum Universitätsprofessor ernannt.

Noch im gleichen Jahr erfolgte ein Ruf an die Universität Tübingen, wo er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2000 am Lehrstuhl für Spezielle Botanik und Mykologie für die pflanzliche Systematik, die Karyologie und Geobotanik zuständig war. Neben den Lungenkräutern arbeitete er vor allem an den Verwandtschaftsverhältnissen der Gattung Iris und von Wildhafern sowie an Fragestellungen zur Vegetationskunde und Ökologie. Dank seines vegetationskundlichen Interesses erkannte er als einer der ersten, dass mit dem 1983 erfolgten großflächigen Bergrutsch am Hirschkopf bei Mössingen ein einzigartiges geobotanisches Forschungsobjekt „direkt vor der Haustür“ entstanden war. Die unter seiner Ägide eingerichteten Dauerbeobachtungsflächen erfüllen noch heute ihren Dienst – sie werden regelmäßig begutachtet und dokumentieren seit über 35 Jahren die pflanzliche Wiederbesiedlung des Bergrutsches. Unter seiner Anleitung wurde in den 1990er Jahren auch das Naturschutzgebiet „Die Beurener Heide“ bei Hechingen sehr sorgfältig untersucht und kartiert.

Wilhelm Sauer verstand es, sein enzyklopädisches Wissen interessierten Studentinnen und Studenten in Vorlesungen, Praktika und auf Exkursionen zu vermitteln. Er konnte stets einen Kreis von botanisch Interessierten für die Pflanzenwelt sowie für geologische und zoologische Phänomene begeistern. Es entstanden von Wilhelm Sauer betreute Doktorarbeiten, in denen auch die molekulare Evolution der Pflanzen berücksichtigt wurde, sowie zahlreiche Diplomarbeiten zur Systematik und Vegetationsökologie der Pflanzen. Vor allem mit Vergabe von geoökologischen Themen leistete er wichtige Beiträge für die Qualifizierung der nachfolgenden Generationen im Naturschutz.

Neben den universitären Exkursionen, die Wilhelm Sauer in die Alpen, nach Ungarn, den Balkan, nach Italien oder nach Georgien führten, hatte er die Gelegenheit, mit seiner Frau, Gerda Sauer, alle Kontinente der Erde besuchen. Forschungsaufenthalte führten ihn vor allem nach China. Auch nach seiner Pensionierung blieb er aktiv und bereiste den Iran und sogar die Antarktis. Immer hatte er dabei die Pflanzenwelt und auch die Kulturen der verschiedensten Länder im Blick. Hierbei kam ihm das Beherrschen nicht nur der klassischen Sprachen, sondern besonders auch sein fließendes Italienisch, Mandarin und Russisch zu Gute. Über die Jahre baute das Ehepaar Sauer ein umfangreiches Herbarium mit Gefäßpflanzen, aber auch Moosen, Pilzen (inkl. Flechten) und Algen auf. Insgesamt umfasst diese Sammlung über 50.000 Belege – eine gewaltige Menge, die heutzutage kaum jemand bewerkstelligt. Sie wurde 2014 in das Herbarium des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart überführt und wird dort zurzeit digital erfasst.

Am 13. März 2020 verstarb Wilhelm Sauer in Tübingen. Mit ihm hatte die Wissenschaft einen Biologen mit einem breiten Wissen auch anderer Natur- und Geisteswissenschaften gewonnen, welches sich heute selten in einer Person vereinigt. Er verstand es, seine Kenntnisse auf vielen Gebieten zu einem weiten Weltbild zu verknüpfen und diese auch zu vermitteln.