Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2020: Forum

Black Lives Matter: „Bewusst anti-rassistisch handeln“

Über die Anfänge der Black Lives Matter Bewegung, ihre Erfolgsaussichten und Solidarität – ein Interview mit der Tübinger Amerikanistin Dr. Nicole Hirschfelder

Seit dem Tod von George Floyd gehen in vielen Städten in den USA Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße. Viele solidarisieren sich mit den Protesten. Die Black-Lives-Matter-Bewegung ist lauter und größer als je zuvor. Die Amerikanistin Nicole Hirschfelder forscht seit 2015 zu diesem Thema. Im Interview erzählt sie über die Anfänge der Bewegung, warum gerade der Tod von George Floyd zu weltweiten Protesten führte und was jeder Einzelne tun kann, um rassistischen Strukturen entgegenzuwirken.

Wo und was haben Sie studiert? 

Ich habe in Frankfurt am Main und an der University of Madison-Wisconsin Amerikanistik und Theater-, Film-, und Medienwissenschaften studiert. Während der Arbeit an meiner Promotion hatte ich eine volle Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Amerikanistik in Tübingen und habe im Rahmen eines Stipendienprogramms an der Yale University für meine Dissertation zum amerikanischen Bürgerrechtler Bayard Rustin geforscht. Nach der Veröffentlichung meiner Doktorarbeit 2014, war ich 2016 und erneut 2018 als Visiting Professor an der University of Maryland. Seit September 2019 forsche und lehre ich nun wieder in Tübingen an der Philosophischen Fakultät in der Abteilung Amerikanistik. 

Seit wann gibt es die Black Lives Matter Bewegung und wie ist die Bewegung entstanden?

Die Bewegung entstand im Jahr 2013 als Reaktion auf den Freispruch von George Zimmerman, dem Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsunternehmens. Dieser hatte zuvor den 17-jährigen Trayvon Martin durch ein bewachtes Wohnviertel verfolgt und schließlich erschossen. Zimmerman behauptete, er habe sich von dem unbewaffneten Teenager, der bei Nieselregen seine Kapuze aufgezogen und gerade Süßigkeiten gekauft hatte, in der von ihm überwachten Nachbarschaft bedroht gefühlt. Dies reichte im US-Bundesstaat Florida aus, um ihn auf Basis des Stand your ground-Gesetzes* freizusprechen. Drei Aktivistinnen – Opal Tometi, Alicia Garza und Patrisse Cullors – erfuhren an unterschiedlichen Orten von diesem Urteil. Durch den Re-tweet eines Facebook-Posts, der mit den Worten „Black People, I love you, I love us, Our Lives Matter” endete, entstand die Bewegung Black Lives Matter, die sich von Beginn an bewusst de-zentral und nicht-hierarchisch organisierte. Die Begründerinnen sind keine Führungspersönlichkeiten wie zu Zeiten der Bürgerrechtsbewegung. Sie sehen sich als Teil einer Bewegung, deren Ziel ein tiefgreifender, struktureller Wandel zum Wohle schwarzer Menschen ist.

Warum glauben Sie hat gerade der Tod von George Floyd zu solchen Protesten und einer weltweiten Solidarisierung – auch in Deutschland – mit der Bewegung geführt?

In diesem Fall ist besonders das Zusammenspiel von drei Faktoren entscheidend dafür, dass es zu einer weltweiten Solidarisierung kam. Der erste Faktor ist das Beweismaterial: Der Tathergang wurde in einem acht Minuten und 46 Sekunden langen Handy-Video bei Tageslicht in sehr guter Qualität gefilmt und in voller Länge veröffentlicht. Der zweite Faktor ist das Timing: Das Video erreichte direkt nach der Tat die Weltöffentlichkeit in einer weltweiten Pandemie, in der viele Menschen zuhause waren. Unmittelbar davor gab es eine Reihe weiterer Fälle von tödlicher Gewalt gegen schwarze Menschen. Barack Obama hatte kurz vorher in einer Abschluss-Rede Fälle von tödlicher Gewalt gegen Schwarze erwähnt und College-Absolventinnen und Absolventen aufgefordert, sich aktivistisch einzusetzen. Zudem bestehen die Strukturen der BLM-Bewegung seit 2013, sodass nach dem Tod George Floyds sofort Protestaktionen organisiert und weltweite Netzwerke genutzt werden konnten. Der dritte Faktor ist das Verhalten des Opfers: George Floyd sprach Derek Chauvin, den Polizisten, der ihn umbrachte, bis zu seinem Tod mit „Sir“ an. Das heißt: Floyd konnte auch nicht – wie es oft geschieht – im Nachhinein für vermeintliches Fehlverhalten während seiner Verhaftung kritisiert werden. Diese drei Faktoren sorgten im Zusammenspiel dafür, dass weltweite Proteste ausgelöst wurden.

Die BLM-Bewegung kritisiert hier jedoch, dass es erst diesen sehr gut dokumentierten Fall mit tödlichem Ausgang während einer globalen Pandemie bedurfte, um Solidarität hervorzurufen. 

Viele Menschen haben ihre Solidarität im Netz unter dem Hashtag #blacklivesmatter verkündet. Was sagen Sie zu der Welle der Solidarität auf Social Media Plattformen wie Instagram?

Einerseits setzen diese Solidaritätsbekundungen ein starkes, symbolisches Zeichen gegen Rassismus. Andererseits sollte reflektiert werden, dass diese Plattformen nach einer eigenen Logik funktionieren, in der „Black Lives Matter“ auch ein Trend ist, der möglichst viele Klicks und Likes generieren soll. Und der virtuelle Protest kann sogar aktiv schädlich für die Sache sein, für die man sich vermeintlich einsetzen will. Denn durch die millionenfache Verwendung des Hashtags #blacklivesmatter für Solidaritäts-Posts wurden wichtige Informationen über die Live-Geschehnisse bei den Protesten überlagert.

Helfen virtuelle Solidaritätsbekundungen der Bewegung?

Virtuelle Solidaritätsbekundungen können ein wichtiger Teil der Bewegung sein und sollten nicht zwangsläufig – wie oft kritisiert wird – als reiner slacktivism abgetan werden. Slacktivism bedeutet, dass lediglich bequem online, aber nicht in der realen Welt Solidarität bekundet wird. Es ist allerdings wichtig, dass die BLM Bewegung seit ihrem Beginn ganz bewusst sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt protestiert hat. Die Bewegung erachtet also sowohl den virtuellen als auch den Protest auf der Straße als sehr wichtig.

Was denken Sie über die Erfolgsaussichten der Proteste?

Bereits die Existenz der Proteste ist in gewisser Weise als Erfolg zu werten, da das Thema so in das Bewusstsein vieler Menschen gerückt ist. Die Proteste markieren jedoch eher eine Etappe, nicht das Ziel. Denn zentrale Ziele der BLM Bewegung sind: Nachhaltige Diskurse und strukturelle Veränderungen.

Was sollte jeder weiße Mensch machen, um weniger rassistisch zu sein bzw. um Rassismus entgegenzuwirken?

So gut die Intention ist, nicht rassistisch sein zu wollen, so wenig richtet sie allein jedoch gegen strukturellen Rassismus aus. Dieser entwickelt seine Wucht weniger aufgrund von einzelnen Personen, sondern eher von Strukturen. Weiße Menschen und einen bestimmten Habitus zu privilegieren, stellt in diesen Strukturen nach der Critical Whiteness Forschung und der Critical Race Theory den Regelfall dar. Um Rassismus entgegenzuwirken ist es daher wichtig, bewusst „anti-rassistisch“ zu handeln. Das heißt an der Universität zum Beispiel, immer wieder die eigene Machtposition zu reflektieren und die persönlichen Privilegien dafür einzusetzen, die Strukturen so zu verändern, dass sich Diversität langfristig entfalten kann. Zu solchen Veränderungen gehören dann in der Konsequenz auch die dauerhafte Repräsentation jener, die bislang strukturell von weißen Privilegien ausgeschlossen waren, in verschiedenen Gremien und Bereichen der Universität. Und die Bereitschaft, sich mit ihren Forderungen und Gedanken auseinanderzusetzen, sowie ein kritisches Überprüfen der eigenen Netzwerke im Hinblick auf Diversität.

Das Interview führte Alisa Koch

Lesetipp

Wenn sich die Leserinnen und Leser für das Thema Rassismus und Black Lives Matter interessieren, empfehle ich ihnen besonders die Arbeiten von Luvena Kopp (Tübingen), zum Beispiel ihr Aufsatz "Der Fall Michael Brown: (Symbolische) Polizeigewalt und kollektive Fantasie", und die Vorträge von Esther Earbin (Tübingen/ Freiburg). Auch das Buch "Exit Racism" von Tupoka Ogette ist sehr empfehlenswert.

Dr. Nicole Hirschfelder

*Stand your ground-Gesetz: Dieses Gesetz erlaubt es Amerikanern, meist straffrei gegen jede Person von der sie sich subjektiv bedroht fühlen, – auch mit einer Schusswaffe – vorzugehen.