Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2020: Forum

Corona-Warn-App: „Digitale Tools sind keine Allheilmittel“

Die Tübinger Studentin Ann Cathrin Riedel von LOAD e. V. über Vor- und Nachteile der App

Ann Cathrin Riedel studiert an der Universität Tübingen und arbeitet ehrenamtlich für LOAD e. V., einen Verein für liberale Netzpolitik in Berlin, der sich für die Erhaltung von Bürgerrechten speziell im digitalen Raum einsetzt. Beruflich ist sie selbständig als Social Media-Beraterin tätig und hat sich auf digitale politische Kommunikation für Vereine, Verbände, Stiftungen und Behörden spezialisiert. Mit LOAD e. V. hat sie die Entwicklung der Corona-Warn-App kritisch begleitet. Johannes Baral befragte Ann Cathrin Riedel im Interview zu Vor- und Nachteilen der App.

Welche Fächer studieren Sie in Tübingen?

Ich habe mit Sprachen, Geschichte und Kultur des Nahen Ostens (Islamwissenschaft) und Betriebswirtschaftslehre im Nebenfach angefangen. Das Hauptfach habe ich abgeschlossen, das Nebenfach irgendwann gewechselt. Momentan bin ich dabei, das Nebenfach – nun Politikwissenschaft – mit den ausstehenden Hausarbeiten in Tübingen abzuschließen. 

Sie haben mit LOAD e. V. die Entwicklung der Corona-Warn-App kritisch beobachtet. Welche Problematiken haben Sie hauptsächlich gesehen?

Erstens wurden Apps als Vorbild genommen, die Tracking eingesetzt haben. Das heißt, sie haben die Orte, die Menschen besucht haben, mit Hilfe von GPS-Daten verfolgt. Zudem wurden, beispielsweise in Südkorea, weitaus mehr Daten verwendet, um eine Kontaktnachverfolgung zu machen. Unter anderem Daten aus dem elektronischen Zahlungsverkehr und von Überwachungskameras. Einige hier in Deutschland hatten ähnliche „Phantasien“ für eine hiesige App. Sowas lässt sich aber nicht mit unseren europäischen Werten vereinbaren. Privatsphäre und Datenschutz sind nicht „nice to have“, sondern essentiell für unsere Gesellschaften hier in Europa. Wir haben uns also dafür eingesetzt, dass die App möglichst privatsphäreschonend und datensparsam umgesetzt wird und keine Grundlage für eine Überwachungsinfrastruktur liefert. Zweitens, und das sehen wir trotz der Datenmengen, die in Südkorea genutzt wurden, sind digitale Tools kein Allheilmittel für Probleme. Wir sahen und sehen bei der Tracing-App viel so genannten „Tech-Solutionism“, also den Glauben, dass man mit einer App Corona beherrschen könne. Oder sich mit der App vor Corona schützen könne, wie im schlimmsten Fall suggeriert wurde. Die App kann aber nur ein Baustein in der Bekämpfung sein. Sie kann helfen, Kontakte zurück zu verfolgen. Ob es klappt, werden wir erst in mehreren Monaten wissen, denn Bluetooth wurde nicht zur Abstandsmessung entwickelt. 

Technologie alleine reicht also nicht zur Bekämpfung von Corona.

Genau. Außerdem wurde zu sehr in der Debatte vergessen, dass das Smartphone kein guter Stellvertreter für den Menschen ist – viele tragen es beispielsweise nicht ständig mit sich herum. Außerdem wurde zu wenig über die Rahmenbedingungen gesprochen – schließlich geht es hier um Menschen, denen eventuell gesagt wird, dass sie schwer krank sein können. Also: was macht eine Push-Mitteilung mit einem Menschen, wenn er die Information bekommt, möglicherweise infiziert zu sein – gerade wenn er oder sie schon Vorerkrankungen hat? Übernimmt die Krankenkasse einen Test aufgrund einer Meldung der App? Wie groß wird der Anteil von falsch-positiven Meldungen sein und was macht das mit der Vertrauenswürdigkeit in die Funktionalität der App? Oder auch die jetzt aufkommende Diskussion über die Partizipationsmöglichkeit: wer hat ein passendes Smartphone, auf dem die App funktioniert? Wer hat überhaupt ein Smartphone? – Es sind gerade mal 79 Prozent der Deutschen. Das sind alles Fragen, die wir schon Anfang April aufgeworfen haben und die wenig diskutiert wurden. Teilweise wurden zum Glück aber Lösungen gefunden oder man arbeitet daran. Rahmenbedingungen gehören in so eine Debatte nebst Datenschutz und Cybersicherheit zwingend dazu.

Wie zufrieden sind Sie nun mit dem Ergebnis?

Die technische Lösung, die wir nun haben, ist auch durch den Druck der Zivilgesellschaft die beste, die wir uns vorstellen konnten. Die Daten werden dezentral abgeglichen und die App wurde als Open-Source-Projekt entwickelt. Das heißt, der Code ist einsehbar und Menschen mit entsprechender Expertise können prüfen, wo eventuelle Sicherheitslücken sind oder ob Daten wirklich so verarbeitet werden, wie die Entwicklerinnen und Entwickler es behaupten. Das ist der Fall. Feedback wurde sehr gut aufgenommen und eingearbeitet. Vom Parlament und der Bundesregierung hätte ich mir noch eine ernsthaftere Debatte über ein Begleitgesetz zur App gewünscht, ich halte ein solches für sinnvoll. Den Quenglern, die sagten, wir hätten die App früher gebraucht, entgegne ich: Früher wäre die App ein Desaster geworden. Die Technik hinter der App ist angewiesen auf Schnittstellen, die Apple und Google für ihre Betriebssysteme bereitstellen mussten. Das geschah erst wenige Tage vor Veröffentlichung der deutschen App, und wir waren damit die ersten, die diese Schnittstellen nutzen konnten. Ohne die Schnittstellen hätte das Smartphone immer entsperrt sein müssen, damit Bluetooth funktioniert. Das ist nicht nur nicht praktikabel, das ist auch ein Sicherheitsrisiko. Und was mir auch ganz wichtig ist: Es ist ein wahnsinniges Privileg, dass wir hierzulande diese von manchen als so überflüssig und hysterisch empfundenen Diskussionen über Datenschutz führen können. Ich denke, es ist wichtig für eine demokratische Gesellschaft, diesen Diskurs zu führen: Was wollen wir und inwieweit sind wir auch in einer pandemischen Lage bereit, unsere Grundrechte einzuschränken für eine nicht erwiesen funktionierende technische Lösung anstatt eine Lösung von „oben“ vorgesetzt zu bekommen. Das ist auch für mich anstrengend, aber es bereichert ebenso. Und es hilft sehr, während solcher Diskussionen ein Seminar über Hannah Arendt hier in Tübingen zu belegen und Texte über Freiheit und das „öffentliche Glück“ zu lesen.

Gibt es an der App noch „Rest-Nachteile“ aus Ihrer Sicht?

Keine, die mich davon abhalten würden, Menschen zur Installation zu raten. Wie gesagt, ich hätte gerne ein Gesetz zur App gesehen, mindestens jedoch eine größere Debatte um das Für und Wider eines solchen. Wir sehen aktuell einige technische Probleme, sei es bei der App oder bei der Infrastruktur im Hintergrund von Apple oder Android. Aber das ist auch etwas das wir dringend lernen müssen: Code ist nie fehlerfrei. Normalerweise wird eine App lange getestet, bevor sie veröffentlicht wird. Das haben wir hier nicht gemacht. Auch weil viele so gedrängt haben, dass wir jetzt eine App brauchen. Ich gehe aber davon aus, dass diese Probleme nach und nach gelöst werden. 

Wie viel kann diese App Ihrer Einschätzung nach zur Bekämpfung des Corona-Virus beitragen?

Das wird sich zeigen und wir sollten es ausprobieren. Dabei sind mir zwei Sachen aber ganz wichtig: Erstens, das ganze Projekt kann fehlschlagen und das ist okay. Denn wie ich schon sagte: das Smartphone kann den Menschen und sein Verhalten nicht eins zu eins widerspiegeln. Sehr viele Probleme lassen sich nicht mit Technik oder Daten lösen, auch wenn wir das gerne so hätten. Die Technik, die Entwicklerinnen und Entwickler oder das ganze Projekt generell bei einem Fehlschlag zu verdammen, wäre mehr als fatal – wir brauchen den Mut zum Ausprobieren. Zweitens: die Pandemie ist nicht vorbei. Wir haben noch keinen Impfstoff. Abstand halten, Mund-Nase-Schutz tragen, Kontakte minimieren, Hygiene-Regeln einhalten – das alles bleibt essentiell. Das wird uns eine App niemals abnehmen können.