Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2020: Forum

Nicht von oben herab belehren

Die Rhetorikerin Viktorija Romascenko empfiehlt, in Diskussionen häufiger nach den Gründen für eine bestimmte Meinung zu fragen

Wieviel Humor braucht politische Kommunikation? Gibt es in Social Media-Diskussionen einen echten Meinungsaustausch? Und wie diskutiere ich mit Menschen, die wissenschaftlichen Erkenntnissen kategorisch misstrauen? Viktorija Romascenko ist seit 2015 Akademische Mitarbeiterin am Seminar für Allgemeine Rhetorik. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit Funktionen des Humors in der politischen Kommunikation. Außerdem forscht und lehrt sie zu Fehlschlüssen, kritischem Denken und Propaganda-Konzepten. Johannes Baral sprach mit ihr mit Blick auf aktuelle gesellschaftliche und politische Diskussionen.

Fehlt es der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Kommunikation an Humor?

Humor ist nicht immer angemessen. Er kann dabei helfen, Spannungen abzubauen und Gemeinsamkeiten zu finden. Es gibt aber auch viele Situationen, in denen Humor beleidigend wirkt. Es ist jedenfalls nicht sehr produktiv, sich über die Ansichten und Überzeugungen anderer einfach nur lustig zu machen.

Aktuell findet viel Kommunikation zwischen Menschen in Social Media oder Kommentarspalten von Online-Medien statt. Handelt es sich hier tatsächlich um einen Meinungsaustausch?

In der Theorie ist der Anspruch einer Diskussion meistens der Austausch von Ansichten und eine anschließende Einigung. Das ist aber tatsächlich selten so – vor allem in Sozialen Medien. Das sind meiner Meinung nach keine wirklichen Diskussionen. Man hört dort einander in der Regel nicht zu. Oft geht es darum, sich vor den eigenen Gesinnungsgenossen zu inszenieren. Da werden dann zum Beispiel die Argumente von jemandem als unlogisch bezeichnet oder lächerlich gemacht. Für eine konstruktive Diskussion halte ich es für wichtig, sich gegenseitig zuzuhören und zu versuchen, zu verstehen, warum das Gegenüber eine bestimmte Meinung vertritt. 

Sind das Kommunikationsverläufe, die aus Ihrer Sicht in den derzeitigen Diskussionen rund um Corona verstärkt zu beobachten sind?

Ich bin der Meinung, dass sich viele in der Diskussion zu stark an tatsächlichen oder vermeintlichen Fakten orientieren. Das klingt erst einmal eigenartig, wenn es eine Wissenschaftlerin sagt. Ich meine damit aber, dass die Kommunikation meistens so verläuft, dass Fakten einfach mit anderen Fakten beantwortet werden. Das funktioniert aber schlecht bei komplexen Themen. Bei der Coronakrise geht es um extrem komplizierte Fragen mit vielen Aspekten von Fachwissen über persönliche Erfahrungen bis zu dem, was die jeweils von den diskutierenden Personen favorisierten Autoritäten denken. Es ist aus meiner Sicht wichtig, einen Unterschied zu machen zwischen einem Argument und einer Erklärung. Das meiste, was wir in Online-Diskussionen sehen, sind Erklärungen – keine Argumente. Die Schlussfolgerung aus einem Argument kann sich ändern, wenn man andere, neue Fakten hinzuzieht. Bei Erklärungen steht die Schlussfolgerung aber schon fest. Wenn jemand beispielsweise glaubt, dass reiche Persönlichkeiten uns Chips implantieren wollen, ist es in der Diskussion wenig hilfreich, sich mit dieser Person über die technische Machbarkeit eines solchen Vorgangs zu unterhalten. Denn die dieser Ansicht zugrunde liegende Schlussfolgerung basiert eben nicht auf technischem Wissen. Die entscheidende Frage ist erst einmal, woher diese Einschätzung kommt. Ich finde es an dieser Stelle produktiver zu fragen, warum sich offensichtlich so viele gegenüber dem reichen Bevölkerungsteil so machtlos und kontrolliert fühlen. 

Also nicht immer nur mit Fakten gegenargumentieren, sondern versuchen, herauszufinden, woher die Meinung des Gegenübers kommt? Wie diskutiere ich mit jemandem, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht mehr glauben will? 

Genau. Das ist natürlich anstrengender, weil man sich mehr auf die andere Position einlassen muss. Ein Weg dorthin kann sein, sich zu überlegen, welche Fragen man sich selbst stellen würde, um zu der Meinung seines Gegenübers zu kommen. Wir haben alle auch Ansichten, die nicht wissenschaftlich begründet sind. Aus diesem Grund sollte man eben eher fragen, warum jemand glaubt, dass den Menschen Chips eingepflanzt werden sollen. Oft sind es falsche Autoritäten, von denen solche Ansichten übernommen werden. Warum wirken diese Autoritäten so überzeugend? Weiß die oder der andere vielleicht nicht, wo man sich zuverlässiger informieren kann? Das ist für mich eine bessere Herangehensweise als von oben herab zu belehren. Denn das schafft Abstand zwischen uns. Man sollte der anderen Person respektvoll begegnen, auch wenn deren Meinung noch so absurd erscheint. Wenn man Sätze wie „Bist du blind?“ oder „Begreifst du das etwa nicht?“ äußert, setzt man sie herab. Höflicher formuliert wäre beispielsweise: „Ist es nicht so?“. 

Woher kommt das, dass ein Teil der Bevölkerung wissenschaftliche Erkenntnisse grundsätzlich erst einmal bezweifelt?

Meine Beobachtung ist, dass der Autoritätsverlust der Wissenschaft auf einem „Alles oder nichts“-Denken basiert. Beispielsweise wenn ein Mensch aus der Tatsache, dass zwei Virologen unterschiedlicher Meinung sind, folgert, dass man den Aussagen von Virologen generell nicht glauben kann. Oder wenn ein Journalist etwas schreibt, dass sich irgendwann als falsch herausstellt und er es richtig stellt. Manche Leute schließen dann aber trotzdem daraus, dass die Presse generell lügt. Sowohl in der Wissenschaft als auch in den Medien gibt es Meinungen. Man arbeitet hier nicht mit endgültigen Wahrheiten. Wir suchen einfach das beste Wissen, das wir haben. Und dabei kann es auch Irrtümer geben. In meinem Forschungsfeld zum kritischen Denken gibt es auch den Begriff des „Volvo Fallacy“, des „Volvo-Irrtums“, für bestimmte Fehlschlüsse. Bei dem Begriff geht es um ein Gedankenexperiment, nach dem ein Mensch keinen Volvo kaufen will, weil der Nachbar mit einem solchen Auto einen schweren Unfall hatte. Übertragen auf die Forschung zu Fehlschlüssen geht es darum, dass man die Meinung des Nachbarn für wahrhaftiger hält als wissenschaftliche Erkenntnisse oder Statistiken. Wenn es beispielsweise heißt, das ein Land Corona-Risikogebiet ist, der Nachbar war aber gerade dort im Urlaub und hat sich nicht infiziert, ist dann bei manchen die Schlussfolgerung: „Also wird man doch gar nicht krank, wenn man dorthin fährt“. Allerdings kann ich den Volvo Fallacy in Diskussionen auch positiv nutzen, weil ich im direkten Gespräch mit dem Nachbar vielleicht eher eine andere Sichtweise vermitteln kann, als Personen aus Wissenschaft und Politik, die die meisten Menschen nur indirekt über die Medien erreichen.

Das Problem bei wissenschaftlichen Fakten ist ja auch, dass die von unterschiedlichen Personen auch unterschiedlich interpretiert werden.

Viele denken, dass Wissenschaft einfach das Ansammeln von Fakten wäre. Darum geht es aber nicht in erster Linie. Es geht vor allem darum, Methoden zu entwickeln, um sicheres Wissen zu gewinnen und zu erkennen. Auch in der Propaganda wird mit Fakten operiert, die tatsächlich existieren. Aber es ist dann nur eine Auslese der Fakten. Als Wissenschaftlerin und Wissenschaftler lernen Sie, mit Fakten umzugehen.

Bei einem Teil der Bevölkerung finden Verschwörungstheorien großen Zuspruch. Kann man das rhetorisch erklären?

Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Verschwörungstheorien sind zunächst einmal sehr effizient. Sie sprechen tiefgehende Ängste und Probleme an, für die sie vermeintlich einfache Lösungen anbieten. Dazu liefern sie ein Weltbild, das gleichzeitig aufregend und beruhigend ist. Aufregend, weil es mit vielen Emotionen verbunden ist. Es wird beispielsweise gefragt: „Warum sehen die anderen das alles nicht?“. Dazu kommt, dass man über das Internet viel schneller Gleichgesinnte finden kann. Das wäre abends in einer Kneipe nicht so einfach. Der beruhigende Effekt entsteht durch die einfachen Erklärungen und Lösungsangebote. Es ist viel schwieriger, Ungewissheiten zu akzeptieren. Und dann gibt es ja noch den Mechanismus des selektiven Wahrnehmens. Auch wenn wir das Gleiche beobachten, sehen wir nicht unbedingt das Gleiche.