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Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2021: Forum

Die Atmung der Schlammspringer: Tübinger Dissertation nach 90 Jahren ins Englische übersetzt

Späte Würdigung für Elfriede Schöttle, die 1931 am Institut für Zoologie promovierte

Das auf dem Gebiet der Ökophysiologie forschende japanische Ehepaar Atsushi und Mizuri Ishimatsu von der Nagasaki Universität hat nach jahrelanger Arbeit die englische Übersetzung einer Tübinger Promotionsschrift aus dem Jahre 1931 abgeschlossen. Sie wurde im Februar 2021 in voller Länge veröffentlicht, mit der deutschsprachigen Originalarbeit im Anhang. Es ist die Dissertation von Dr. Elfriede Schöttle aus dem damaligen Zoologischen Institut der Universität Tübingen. Das Thema ihrer Dissertation: die Atmungsorgane der Schlammspringer, einer Gattung amphibisch lebender Fische, deren Lebensraum sowohl das Wasser als auch das Land ist. 

Die Anpassung der Atmungsorgane beim Übergang vom Wasser- zum Landleben ist entwicklungsgeschichtlich von grundlegender Bedeutung. Schöttles Arbeit, so die japanischen Forscher, sei zu dieser Thematik das „klassische Paper“ schlechthin. Sie werde bis heute in Fachkreisen regelmäßig als Referenz genannt. Für Atsushi und Mizuri Ishimatsu enthält die Dissertation eine ganze Fülle genialer Ideen und originärer Einsichten, von denen einige in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft allerdings immer noch nicht voll erkannt worden seien (s. Kasten aus dem Vorwort zur englischen Übersetzung). Grund hierfür ist aus ihrer Sicht, dass Schöttles Arbeit auf Deutsch verfasst wurde. Dies stelle für die Fachwelt heute genauso wie schon 1931 eine große Hürde dar. 

Vor knapp zehn Jahren hat das Ehepaar mit der Übersetzung der Dissertation begonnen. Möglich war dieses Projekt nur, weil Prof. Atsushi Ishimatsu in den Jahren 1984 bis 1986 als Stipendiat zu Gast am Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin in Göttingen war und deswegen sehr gut mit der deutschen Sprache vertraut ist. 

Ein Problem bei diesem ungewöhnlichen Übersetzungsprojekt waren Copyright-Fragen. Professor Ishimatsu wandte sich deswegen an die Universitätsbibliothek Tübingen. Dort gelang es Markus Wust, ein 2019 erschienenes Buch ausfindig zu machen, das ein Unterkapitel „Meine Mutter Elfriede Schöttle“ enthält. Herausgeber des Buchs ist Professor Helmut Bock, der Sohn von Schöttle. Sein Vater, Friedrich Bock, war von 1923 bis 1927 wissenschaftlicher Assistent am Tübinger Zoologischen Institut und der spätere Ehemann von Elfriede Schöttle. Nach der Herstellung des Kontakts zwischen dem Ehepaar Ishimatsu und den Nachfahren Schöttles konnten die rechtlichen Fragen in Zusammenhang mit der Übersetzung der Dissertationsschrift schnell geklärt werden.

Elfriede Schöttle

Elfriede Schöttle (1907-2005) stammte aus einem liberalen württembergischen Pfarrhaus. Nachdem sie bereits in der Schule als hochbegabt aufgefallen war, wurde sie mit Beginn ihres Studiums 1925 in die Studienstiftung des Deutschen Volkes aufgenommen. Ihr Studium führte sie über Tübingen, München und Göttingen zurück nach Tübingen. Sie promovierte bei Professor Jürgen Wilhelm Harms über die Atmung der Schlammspringer. Harms ließ ihr von seinen zahlreichen Expeditionen nach Südostasien regelmäßig frisches Untersuchungsmaterial zukommen. Als er Anfang 1930 von einer Expedition nach Sunda im Westen der Insel Java (heute Teil Indonesiens) zurückkam, stellte seine Schülerin Elfriede Schöttle im großen Kurs-Saal des Zoologischen Instituts ca. 60 Mikroskope auf und zeigte ihm die Ergebnisse ihrer Forschungen anhand von Präparaten, von denen sie im Laufe der Jahre mehrere Tausend angefertigt hat. Ihre Arbeit hat Professor Harms vermutlich sehr beeindruckt, jedenfalls bewertete er ihre Dissertation anschließend mit summa cum laude.

Elfriede Schöttle promovierte in Zeiten, in denen der Frauenanteil an Universitäten noch sehr gering war. Das Habilitationsverbot für Frauen war erst 1920 in ganz Deutschland gefallen, in Tübingen habilitierte sich sogar erst 24 Jahre später erstmals eine Frau. So blieb auch Schöttle trotz ihrer mit der Bestnote ausgezeichneten Arbeit eine weitere akademische Karriere verwehrt. Nach ihrer Heirat mit Friedrich Bock im Juli 1932 wurde sie der Mittelpunkt eines großen Familienkreises mit fünf Kindern, zwölf Enkeln und einer fast unübersehbaren Anzahl von Urenkeln. Vielen von ihnen hat sie ihre Liebe zur Wissenschaft weitergegeben, ihre eigene wissenschaftliche Tätigkeit hat sie dagegen nach der Promotion nicht weiterverfolgt. Bereut hat sie dies trotzdem nicht, in ihren Erinnerungen schrieb sie als 81-Jährige:

„Welch eine Fülle war mein Leben, wenn auch ein Menschenleben viel zu kurz ist, um mehr als nur einen Bruchteil dieses Reichtums zu erfassen. Ein Bruchteil nur – Glückes genug!“  

Über die Wertschätzung ihrer Arbeit, wie sie mit der jetzt erschienenen Übersetzung zum Ausdruck kommt, hätte sie sich sicherlich dennoch sehr gefreut.  

Maximilian von Platen

"The classic paper by Schöttle published in 1931 has been repeatedly cited in the subsequent papers on the biology of mudskippers. However, we felt that the contents of the Schöttle’s paper have not been fully exposed to later researchers since it was written in German. Therefore, we decided to embark upon a translation of this paper into English several years ago. Throughout the translation process, we have realized that the paper includes ingenious ideas and insights about how the morphology and physiology of goby fish are modified during their habitat expansion from water to land, which seems not to be fully realized by mudskipper researchers after Schöttle. We hope that modern researchers of the field of mudskipper biology will be inspired by the ideas and insights that Schöttle developed 90 years ago, and open new dimensions in the study of this fascinating fish. ..." 

“The most important insight we have learned is the possibility that fish do not need drastic alterations of body structures to emerge from water onto land. Schöttle showed through surprisingly accurate observations that mudskippers retain the basic design of the circulatory system of fish, and do not have developed a novel organ for aerial respiration.”

A. & M. Ishimatsu (2021), Auszüge aus dem Vorwort

Publikationen

  • Elfriede Schöttle. Morphologie und Physiologie der Atmung bei wasser-, schlamm- und landlebenden Gobiiformes. - Zeitschrift wiss. Zoologie, 140: 1–114, (1931). 
  • Atsushi Ishimatsu, Mizuri Ishimatsu. An annotated translation of “Morphologie und Physiologie der Atmung bei wasser-, schlamm- und landlebenden Gobiiformes” by Elfriede Schöttle (1931). - Bulletin Faculty Fisheries, Nagasaki Univ. No. 101: 1-149 (2021) -  https://www.researchgate.net/profile/Atsushi-Ishimatsu.
  • Helmut Bock. Späte Fragen an meinen Vater – In: Friedrich Bock: Paderborner Tagebuch 1939 – 1945, 310 S., Bielefeld (Verlag für Regionalgeschichte) (2019). ISBN 978-3-7395-1218-1.