Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2021: Studium und Lehre

„Es braucht Offenheit“ – Drei Absolventen des Refugee-Programms berichten

Sie flohen vor dem Grauen des syrischen Bürgerkriegs nach Deutschland. Mit dem Refugee-Programm gelang ihnen der Einstieg in ein Studium an der Universität Tübingen, wo sie heute erfolgreich studieren. Die Geschichten von Nour Othman, Jawdat Khzai und Abdul Mokhallalati machen Mut.

Abdul Mokhallalati kommt aus Aleppo im Norden Syriens, das besonders schwer vom Krieg erschüttert wurde. 16 Jahre war er alt, hatte gerade das Abitur gemacht, als er mit zwei älteren Cousins und seinem jüngeren Neffen aufbrach. „Wir haben keine Zukunft in dem Land gesehen“, sagt er. Der Militärdienst drohte, sogar eine Festnahme. „Das war sehr beängstigend“, sagt er.

Wie viele andere führte ihn der Weg im Herbst 2015 zunächst in die Türkei. Von dort ging es im Schlauchboot nach Griechenland, dann über die Balkanroute nach Deutschland. „Ich habe Verwandte hier. Woanders wäre es schwieriger gewesen“, sagt er. Schon auf dem Weg begann er, die Sprache zu lernen. „Ich wollte wenigstens nach dem Weg zum Bahnhof fragen können.“

In einem Sprachkurs hörte er vom Refugee-Programm in Tübingen. Trotz seines relativ jungen Alters wurde er zugelassen. Besonders geschätzt hat er dort das vielfältige Angebot, das auch wissenschaftliche oder kulturelle Themen umfasste. „Ich hatte genug Zeit, um mich zu entscheiden, was ich studieren will, und zu verstehen, wie die Gesellschaft hier funktioniert“, sagt er. 

Mittlerweile studiert Mokhallalati im 6. Semester Psychologie. Nach seiner Bachelor-Arbeit plant er ein Masterstudium. Später möchte er in der Klinischen Psychologie arbeiten. Was ihm am meisten beim Einleben geholfen hat? „Es braucht Offenheit“, sagt er. „Man muss Vorurteile überwinden – auf beiden Seiten.“

Nour Othman trägt einen Hijab und ist eine offene und selbstbewusste Frau. Das war nicht immer so, wie die 25-Jährige einräumt. Bei der Ankunft in Deutschland sei sie schüchtern gewesen, habe Augenkontakt mit Männern gemieden. „Das ist einfach eine andere Kultur“, sagt sie. „Aber ich habe gemerkt: Wenn ich hier in diesem Land lebe, muss ich mich auch an die Kultur anpassen. Das hat mich stärker gemacht.“

Die ersten Monate in Deutschland habe sie die Flüchtlingsunterkunft aus Angst nicht verlassen. Sie half dort aber als Übersetzerin, knüpfte erste Kontakte. Und sie begann Deutsch zu lernen. Ein Lehrer gab ihr ehrenamtlich Unterricht. Nachdem sie in Damaskus bereits drei Semester Chemie studiert hatte, schrieb sie sich in Tübingen als Gasthörerin ein. Sie wollte das deutsche Uni-System kennenlernen. Schließlich wurde sie in das Refugee-Programm aufgenommen. Dort fand sie ihr heutiges Studienfach Hebammen-Wissenschaft. 

„Ich habe in mir neue Dinge entdeckt: dass ich kommunikativ bin, dass ich gerne mit Frauen arbeite, dass ich Kinder mag und dass ich keine Angst vor Blut habe. Ich sehe mich als nichts anderes als als Hebamme“, sagt sie mit Begeisterung. Für die nahe Zukunft strebt sie ein Auslandssemester an. Danach ist der Master eine Option, später vielleicht eine leitende Stelle im Kreißsaal oder die Arbeit als freiberufliche Hebamme.

Neben ihrem Studium engagiert sie sich ehrenamtlich, arbeitet als Dolmetscherin und Übersetzerin für Flüchtlinge. Außerdem ist sie im Verein Female Fellows aktiv, der sich für die Stärkung von Frauen mit Flucht- und Migrationserfahrung einsetzt. „Flüchtlinge müssen den ersten Schritt machen und die Hürden überwinden. Man muss die Probleme analysieren und dann eine Lösung finden“, erklärt Othman pragmatisch.

„Ich bin mein ganzes Leben Flüchtling“, sagt Jawdat Khzai. Der 29 Jahre alte Palästinenser ist in Syrien geboren, lebte dort in einem Lager in Süddamaskus. Er studierte Zahnmedizin, stand kurz vor seinem Abschluss. Als die Lage immer bedrohlicher wurde, entschloss er sich zur Flucht. Seine schwangere Frau musste er zurücklassen. 

Im Juli 2015 kam er in Berlin an. Die erste Zeit in der Flüchtlingsunterkunft war hart: „Ich hatte Heimweh und Angst um meine Familie“, sagt er. Er begann Deutsch zu lernen, besuchte Integrationskurse und entschied sich im Herbst 2017 nach mehreren Zusagen für den Studienvorbereitungskurs in Tübingen. 

Geholfen hätten ihm im Refugee-Programm neben den Sprachkursen auch der Kontakt zu deutschen Studenten und die rechtliche Unterstützung beispielsweise bei der Familienzusammenführung. 2019 konnte er seine Frau und seinen Sohn nachholen. 2020 kam seine Tochter zur Welt.

Bereits im Juli 2018 hatte er ein Studienplatz für Zahnmedizin erhalten. Später nahm er noch ein Humanmedizinstudium auf, weil sich beide Fächer gut ergänzen. Später will er als Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurg arbeiten. Sein Wissen will er auch in Dritte-Welt-Ländern weitergeben. „Es gibt viele angeborene Fehlbildungen, die oft nicht behandelt werden, weil es dort keine Fachkräfte gibt“, sagt er. Schon jetzt engagiert er sich ehrenamtlich, arbeitet etwa mit traumatisierten Flüchtlingen. 

In Deutschland müsse man Geduld haben und dürfe nicht aufgeben, wenn einmal etwas nicht auf Anhieb klappt. „Wenn es eine rechtliche Grundlage gibt, wird es klappen“, sagt Khzai, der mittlerweile einen Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft gestellt hat. Die ersten zwei bis drei Jahre seien für alle schwierig. „Aber wenn man das System und das Land versteht, kommt man sehr gut zurecht.“

Stephan Köhnlein

Von 2016 bis Juli 2020 gab es insgesamt vier Auflagen des zweisemestrigen Refugee-Programms der Universität Tübingen. Auf dem Stundenplan standen dabei Deutsch- und Integrationskurse.