Kurz vor Vollendung seines 95. Lebensjahres ist am 16. Dezember Prof. Dr. med. Dr. theol. Dietrich Rössler verstorben. Dietrich Rössler war Arzt und Theologe, beides zugleich, und er verstand es, beide Fachdisziplinen so ins Verhältnis zu setzen, dass der „ganze Mensch“ – so der Titel seiner Habilitationsschrift – in den Blick rückte. Der Mensch, so Rössler, ist nicht auf Seelenzustände oder Krankheiten zu reduzieren, sondern im anthropologischen Sinne unteilbar: ein Individuum, dessen Individualität im Medium seiner Lebensgeschichte zu rekonstruieren ist.
Dietrich Rössler wurde 1927 in Kiel geboren. Er studierte seit 1947 Evangelische Theologie und Medizin in Heidelberg und Berlin, wurde 1951 zum Dr. med. und 1957 zum Dr. theol. promoviert. In Göttingen habilitierte er sich und wurde 1965 nach Tübingen auf das neu geschaffene dritte Ordinariat für Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät berufen. Mit seiner Berufung verband sich die Hoffnung, die Praktische Theologie als akademische Wissenschaft zu profilieren und nicht etwa zwischen praktischem Erfahrungswissen und theologischen Anwendungsbezügen zu changieren. Sie hat sich mit der Person Dietrich Rössler erfüllt. Sein umfänglicher Grundriß zur Praktischen Theologie, in 2. Auflage 1994 erschienen, bietet einen Theorierahmen, der die Vielfalt religiöser Phänomene empirisch und systematisch zugleich aufschließt. Seine orientierende Reflexion der unterschiedlichen Formen neuzeitlicher Christentumspraxis ist bis heute wirkungsstark.
Es ist ein großes Glück für Tübingen, dass es gelang, Rufe nach Kiel und Göttingen abzuwehren. In Dietrich Rösslers Leben spiegeln sich zentrale Etappen der jüngeren Theologiegeschichte wider. Immer wieder gingen von ihm maßgebliche Impulse aus, etwa für die Reform des Theologischen Studiums, die Predigtstudien mit ihrem neuen methodischen Verfahren oder die Gründung der International Academy for Practical Theology 1991. Im Frühjahr wurde Dietrich Rössler anlässlich des 30-jährigen Jubiläums als Co-Founder der Academy geehrt. Dass er online teilgenommen hat, zeigt, wie aufgeschlossen und interessiert er war, auch am Fakultätsleben, in dessen „Fenster er immer wieder gerne einen Blick wirft“ – wie er sagte.
Dietrich Rössler war überdies kooptiertes Mitglied der medizinischen Fakultät. Auch hier hinterließ er Spuren. Er war maßgeblich an der Gründung der hiesigen Ethik-Kommission im Jahre 1978 beteiligt, lange bevor Gesetze diese Institutionen vorschrieben. Ihm ist es auch hier zu verdanken, dass Tübingen zum Vorreiter wurde. Dietrich Rössler war Mitglied der ersten Stunde und lange Zeit ihr Vorsitzender. Von ihm stammt der richtungweisende Satz: „Ethik-Kommissionen sind das Programm einer verantwortlichen Selbstkontrolle der Forschung“.
Er hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Medizinische Fakultät Tübingen den ersten Lehrstuhl für Ethik in der Medizin in Deutschland einrichtete. Er hat ihn selbst vier Jahre lang kommissarisch geleitet, bis zu seiner Besetzung im Jahre 1998. Die Medizin, so Dietrich Rössler, bräuchte für ihre ethischen Aspekte einen Ort, an dem sie sich darüber reflektiert Auskunft geben kann. Es stand für ihn außer Zweifel, dass die moderne Medizin durch Nutzung der Naturwissenschaften große Erfolge erringen kann. Gleichwohl, zur Medizin gehört mehr. Sie steht nicht nur vor der Frage, wie in technischer Hinsicht ein bestimmtes Ziel zu erreichen ist, sondern auch, ob und unter welchen Bedingungen sie dieses Ziel anstreben soll. Sie sieht sich beständig mit der ethischen Frage konfrontiert.
Über seine vielfältigen Verdienste hinaus hat Dietrich Rössler als Person beeindruckt. Er war ein scharfsinniger Autor, ein geschliffener Redner, ein einnehmender Gesprächspartner, ein Gelehrter und nicht zuletzt ein passionierter Golfspieler.