Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2022: Forschung

Eine Nische für die Neuzeit

Tübinger Archäologie untersucht Relikte von NS-Arbeitsstätten auf der Schwäbischen Alb

Eine neue Menschenart oder eiszeitliche Kunst – die Tübinger Archäologie macht immer wieder auch außerhalb der Fachcommunity mit Funden aus längst vergangenen Jahrtausenden auf sich aufmerksam. Weniger bekannt, aber ebenso bemerkenswert ist es, dass Tübinger Forscherinnen und Forscher auch eine Epoche der jüngsten Vergangenheit archäologisch aufarbeiten: die NS-Zeit. Die zeitgeschichtliche Archäologie sei in Deutschland noch nicht sehr etabliert, sagt Dr. Natascha Mehler, Professorin für Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit. In der Nachkriegszeit bestand lange kein Interesse an der archäologischen Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit. Mittlerweile werde sie vor allem von Denkmalämtern vorangetrieben, sei aber an den Universitäten noch kaum angekommen – neben Tübingen nur in Kiel und Bamberg. „Wir sind also ganz vorne dabei,“ so Mehler.

Auch die Tübinger Arbeiten finden in Kooperation mit dem Landesdenkmalamt statt. Sie sind Teil einer Untersuchung des KZ-Komplexes Natzweiler: Das Konzentrationslager im Elsass hatte in Baden-Württemberg zahlreiche Außenlager und Arbeitsstätten. Am Albtrauf entlang von Bisingen und Balingen bis Erzingen sollte ab 1944 Ölschiefer abgebaut werden, um Treibstoff zu gewinnen. So entstanden die „Wüste-Werke“ mit technischen Anlagen und hunderte Meter langen Schiefermeilern, die von Häftlingen teilweise mit bloßen Händen aus scharfkantigem Schiefermaterial aufgeschichtet wurden. „Ein irrsinniger Aufwand unter Einsatz von Menschenleben bei minimalem Ertrag,“ sagt PD Dr. Lukas Werther aus dem Team von Natascha Mehler. Nach Kriegsende fand ein Rückbau statt, heute sind die Flächen teils bewaldet, teils Ackerland. Hier ist zunächst Grundlagenarbeit gefragt: Wie war die Struktur der Werke, welche Ausdehnung hatten sie? Es sei typisch für die Archäologie aus der Zeit des 2. Weltkriegs, dass es materielle Hinterlassenschaften gibt, zu denen Schriftquellen fehlen, etwa weil diese vernichtet wurden, erklärt Mehler. Hier können archäologische Methoden neue Erkenntnisse bringen und zeigen, was von den ursprünglichen Planungen umgesetzt wurde.

Für die Schieferölmeiler von “Wüste 4“ bei Erzingen wollen die Forscherinnen und Forscher zudem die – vermutlich ineffizienten – technischen Verfahren rekonstruieren, die zum Einsatz kamen. „Die Meiler brannten und alle halbe Stunde kam ein Tröpfchen Öl raus“, fasst Lukas Werther Zeitzeugenberichte zusammen. Hier bringt auch das Tübinger Competence Center Archaeometry (CCA BW) seine naturwissenschaftliche Expertise ein. 

Um den Alltag im Werk und seinen Betrieb besser zu verstehen, werten die Archäologinnen und Archäologen zahlreiche Objekte aus dem Areal von „Wüste 3“ bei Bisingen aus – meist Fundstücke, die Ehrenamtliche nach dem Pflügen auf Äckern eingesammelt haben. Hier sind oft Studierende eingebunden, um grundlegende archäologische Arbeitsweisen zu erlernen. Zunächst wird ein Objekt funktional eingeordnet: Wofür wurde es vermutlich genutzt? Hinzu kommt eine fotografische Dokumentation und die Aufnahme von Maßen und Materialeigenschaften, um den Fund zu katalogisieren. Dann gilt es, Anhaltspunkte für die Datierung zu finden: Ist das vermeintliche NS-Objekt womöglich doch jünger oder war es gar Teil einer modernen Landmaschine? Anders als bei Funden etwa aus der Römerzeit gebe es kaum archäologische Vergleichsliteratur, die bei der Einordnung eines zeitgeschichtlichen Fundstücks hilft, so Werther. Stattdessen ist Detektivarbeit angesagt, etwa durch Auswertung von Warenkatalogen aus der Nazizeit oder Rechnungen aus Archiven. Schienennägel von Feldbahnen, Werkzeug oder Alltagsobjekte wie Essgeschirr lassen sich so identifizieren, aber nicht alle Funde können eindeutig zugeordnet werden.

Besonders eindrücklich war für Lukas Werther der Fund einer Schaufel mit einem Blatt aus Eisenblech. Bildquellen von 1944/45 zeigten einen ähnlichen Schaufeltyp, dazu gebe es Zeitzeugenberichte, etwa die dramatische Geschichte eines Neuankömmlings im Werk, der bei der Übergabe einer Schaufel schon zu schwach war, sie überhaupt zu halten – solche persönlichen Schicksale im Zusammenhang mit Fundstücken ließen Bilder im Kopf entstehen. Geschichte wird damit fast im Wortsinne greifbar.

Hier zeigt sich auch der Mehrwert der zeitgeschichtlichen Archäologie: Sie nähert sich der NS-Zeit über ihre materiellen Relikte an, Objekten also, mit denen sich die Geschichtswissenschaft bisher kaum beschäftigt hat. Dafür wollen Mehler und Werther eine Sensibilität schaffen, denn die Schriftquellen des 20. Jahrhunderts ergeben kein vollständiges Bild. Auch für die Gedenk- und Vermittlungsarbeit würden die materiellen Funde umso wichtiger, je weniger Zeitzeugen es gibt. Beide Archäologen halten eine intensivere Zusammenarbeit mit den Historikern für wichtig – auch in der Ausbildung der Studierenden. Sie begrüßen auch, dass die Tübinger Archäologie mit der Archäometrie eine Brücke zu den Naturwissenschaften schlägt. Nicht zuletzt sei die insgesamt breit aufgestellte Disziplin auch ein Plus für Nischenprojekte, meint Lukas Werther: „Wo, wenn nicht in Tübingen, kann man einen Schwerpunkt in der zeitgeschichtlichen Archäologie setzen und weiterentwickeln?“

Tina Schäfer

Weitere Informationen

KZ-Komplex Natzweiler: Denkmalfachliche Evaluierung der Außenlager und Arbeitsstätten in Baden-Württemberg [https://www.denkmalpflege-bw.de/denkmale/projekte/archaeologische-denkmalpflege/archaeologie-der-moderne/kz-komplex-natzweiler/] – Informationen des Landesdenkmalamts

Weitere Projekte der neueren und neuesten Archäologie

Die Kolonie Nueva Germania (Paraguay) und ihre Ressourcen – Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs RessourcenKulturen untersucht das Team von Natascha Mehler die Kolonie Nueva Germania [https://uni-tuebingen.de/de/228389], die Ende des 19. Jahrhunderts von deutschen Siedlern um Bernhard Förster und seine Frau Elisabeth Nietzsche, der Schwester des Philosophen Friedrich Nietzsche, gegründet worden war. Die Gruppe wollte im Urwald ihre Utopie einer judenfreien Siedlung umsetzen und zugleich der Impfpflicht gegen die Pocken im deutschen Kaiserreich entgehen („die ersten Querdenker“, so Natascha Mehler).

Mehlers Team war auch an den Grabungen am Gräberfeld X [https://uni-tuebingen.de/universitaet/aktuelles-und-publikationen/newsfullview-aktuell/article/universitaet-tuebingen-fuehrte-grabung-auf-graeberfeld-x-durch/] beteiligt, wo seit 1990 sterbliche Überreste der von Opfern der NS-Euthanasie bestattet sind. Für Natascha Mehler war die Exhumierung das bislang jüngste archäologische Grabungsprojekt.